Der Regler
jetzt wieder den Sarg auf und stemmten ihn sich auf die Schultern. Der Pfarrer ging voraus, auf ein kleines Stück Mauer zu, das rechts neben der Kirche begann. Dort war ein Durchgang, eine offenstehende Pforte. Dahinter führte eine Treppe nach unten, zwanzig Meter etwa, auf den Friedhof. Von oben war er nicht zu sehen gewesen, doch auch von hier blickte man wieder über den See. Die Männer gerieten ins Schwitzen, als sie den Sarg konzentriert hinunterbugsierten. Schließlich hielten sie bei einem offenen Grab an und stellten den Sarg auf den Brettern über dem Loch in der Erde ab. An den Seiten sahen die Seile heraus, mit deren Hilfe man den Sarg am Ende der Zeremonie hinablassen würde.
Paul Tretjaks letzter Weg. In Mailand war er in den Zug gestiegen, den Karton mit den Beweisen unterm Arm, zwei Päckchen Schlaftabletten in der Tasche – und den Brief an seinen Sohn, getippt und ausgedruckt in seinem Haus in Maccagno. So hatte er sich selbst bei der Mordkommission in München abgeliefert. Die Laboruntersuchungen hatten ergeben, dass seine DNA identisch war mit der, die auf Hautstellen der drei Leichen gefunden worden war. Das Haarbüschel stammte von Frau Lanner, die Eiskugelzange und das Messer waren tatsächlich die Tatwerkzeuge. Rainer Gritz war sich sicher, dass diese Art der Dingfestmachung eines Täters irgendwo in der Kriminalgeschichte vermerkt werden würde. Jetzt lag Paul Tretjaks Körper in einer Kiste auf ein paar Brettern oberhalb des Lago Maggiore, und der Pfarrer sprach für ihn die unvermeidlichen Worte »denn Staub bist du, und zu Staub wirst du zurückkehren«.
Der Sohn, den er so gehasst hatte und dem er so geschadet hatte, stand wie versteinert daneben. Sein Geschäft, diese merkwürdige Marktlücke im Dienstleistungsgewerbe, gab es nicht mehr. Diskretion war die Grundlage gewesen, Agieren im Verborgenen. Der Moment, als Gabriel Tretjak in die Schlagzeilen geraten war, markierte das Ende: Verhaftung, Durchsuchung der Wohnung, Beschlagnahmung seiner Unterlagen. Aber Rainer Gritz hatte den Eindruck, dass die ganze Geschichte den Regler noch an anderen Stellen getroffen hatte, genau wie es der Vater geplant hatte. Gritz hatte den Brief des Vaters ja oft genug gelesen und wusste, dass er einen ewigen Stachel darstellte in einer Wunde, die sonst vielleicht hätte anfangen können zu verheilen.
Gabriel
, so hatte er begonnen, dieses eine Wort am Kopf des Papiers, kein Datum, nichts sonst.
Gabriel, als Deine Mutter festgestellt hatte, dass sie schwanger war, schwanger mit Dir, kam es zu einer Szene, die mich mein Leben lang verfolgt hat. Wir saßen am Walterplatz in Bozen in einer Eisdiele, Deine Mutter und ich, und wir sprachen darüber, ob wir eine Abtreibung vornehmen sollten. Es gab ja schon ein Kind, wie Du weißt
… Und dann erklärte der Vater dem Sohn, wie sehr er die Entscheidung, ihn zur Welt zu bringen, ein Leben lang bereut hatte. Er tat das sehr ausführlich und wortreich, man spürte beim Lesen die krankhafte Verfassung des Schreibers.
Hundehütte
nannte er das Haus am See, und er schrieb davon, dass er jede Sekunde damit zugebracht habe, auf Rache zu sinnen.
Aber wie kann man einen Menschen verletzen, der keine Gefühle hat? Oder soll ich lieber sagen, wie kann man einen Menschen verletzen, der nur ein einziges Gefühl kennt: Angst? Nichts macht Dir mehr Angst, als die Kontrolle zu verlieren. Vorgänge, die Du nicht beherrschen kannst
…
Sie hatten den Brief von einem Psychologen begutachten lassen. Viel war nicht dabei herausgekommen. Von einem »emotional aufgewühlten Zustand« war die Rede, von »einer Art seelischer Verwahrlosung«, und die langen Passagen über die Ausführung der Verbrechen, die minutiösen Beschreibungen der Planungen ließen den Experten auf »narzisstische Selbstüberschätzung« schließen, die ein Ventil suchte. Rainer Gritz dachte an den Schluss des Briefes, an den letzten Absatz, der mit etwas größerem Abstand zum Rest angehängt war.
Aber in diesem Brief, uninteressant für die Polizei, nur für Dich erkennbar, ist auch der Zweifel, ob meine Rache mit meinem Tod wirklich zu Ende ist. Was meinst Du, Gabriel?
Keine Unterschrift, nichts sonst.
Ziemlich am Anfang ihrer Zusammenarbeit hatte Kommissar Maler einmal zu Gritz gesagt, dass er früher oder später eine Erfahrung machen werde, die alle Kriminalpolizisten kannten: Wenn ein Fall zu Ende war, spürte man ein eigentümliches Gefühl des Verlustes, man musste sich von dem Fall innerlich
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