Der Regler
Das Gehirn produzierte den Schmerz immer weiter, ohne physiologische Grundlage. Mein Gehirn, dachte Maler, hat sich den Irrsinn gemerkt.
Seit drei Tagen befand er sich nun wieder im Klinikum Großhadern. Er war immer in diesem Klinikum gewesen, von der ersten Untersuchung an, weil der Professor dort die Herzchirurgie leitete. Und seit drei Tagen kamen die Bilder aus der anderen Welt wieder besonders häufig. Maler fragte sich, ob sich sein Gehirn diesen Ort speziell eingraviert hatte, diesen Krankenhauskoloss mit der Intensivstation, wo alles begonnen hatte, und deshalb den Impuls verspürte, im Krankenzimmer eine Extraportion Wahnsinn zu produzieren. Wobei der Wahnsinn diesmal eine neue Schattierung hatte. Zwar verwandelten die Bilder in seinem Kopf wieder die Gesichter von Menschen, in diesem Fall von einem Pfleger, aber diesmal ohne Blut, ohne Katastrophe. Herein kam der Pfleger Marco, ein freundlicher Mann, der Fieber und Blutdruck kontrollierte, und dann plötzlich schaute ihn nicht Marco, sondern Gabriel Tretjak an, mit einem sonderbaren Blick, als wolle er sagen: »Schauen Sie, Herr Kommissar, ich bin überall, wo Sie auch sind.« Mit einem der Stationsärzte ging es ihm genauso. Gabriel Tretjak drängte sich in dessen Gesicht. Was sollte das? Was wollte sein Gehirn damit ausdrücken? Dass Tretjak der Mann war, der ihm die Albträume brachte?
Das hätte August Maler auch ohne diese Bilder herausgefunden. Die vergangene Nacht hatte er lange wachgelegen, und lange hieß im Krankenhaus unendlich lange. Um halb sechs kam das Abendessen. Und dann? Maler lag in einem Einzelzimmer, Herztransplantierte lagen immer in Einzelzimmern. Irgendwann war er eingeschlafen und hatte von Laura Müller geträumt, dem schönen Mädchen, und dass er Sex mit ihr hatte. Er schlief mit der Frau, deren Herz in ihm schlug. Als er aufschreckte, wusste er den Traum noch. Er fand ihn so widerlich, dass er ins Bad ging und sich übergab. Er putzte sich die Zähne und schaute seinem Spiegelbild in die Augen. Schön, dachte er, dass ich jetzt weiß, von wem ich das Herz habe. Vielen Dank, Herr Tretjak.
Maler erzählte dem Professor nichts von seinen Wahnbildern und auch nichts von seinem letzten Traum. Er fragte ihn, ob er ihm etwas für die Nacht geben könne, »ich will schlafen, und ich will möglichst nicht träumen.« Die Schwestern hatten abgelehnt, ihm Schlaftabletten zu geben, »Sie nehmen doch eh schon so viele Medikamente.«
Der Professor sagte: »Okay, ich lasse Ihnen was bringen. Nehmen Sie zwei Tabletten, dann kann ein Erdbeben in Ihrem Zimmer stattfinden, Sie merken es nicht.«
»Das klingt gut«, sagte Maler. Und da er es gern hatte, wenn der Professor noch ein wenig blieb, fragte er ihn, welchen Patienten er gerade zu transplantieren beabsichtige. Er fragte das immer, es war schon ein Ritual geworden. Maler erkundigte sich nach der Arbeit des Professors, und dann erkundigte sich der Professor nach der Arbeit des Kommissars.
»Ein kleines Mädchen, schwer herzkrank, ein neues Herz ist ihre einzige Chance. Drei Jahre alt ist sie«, sagte der Professor. Das Problem war: Es gab so gut wie keine Herzen für Dreijährige. »Wir müssen uns also anders behelfen.«
»Anders behelfen?«, fragte Maler.
»Wir werden ein größeres Herz verkleinern müssen. Ich werde es abschaben, bis es passt.«
Maler zuckte zusammen: »Mein Gott, das arme Kind.«
»Nein, nein, das wird funktionieren, da bin ich ganz sicher.« Und dann fragte der Professor zurück: »Und an was arbeiten Sie? Sie sagten etwas von einem Serienmörder …«
»Haben Sie vielleicht in der Zeitung gelesen. Der Mann, der seinen Opfern die Augen ausgeschält hat. Mit solchen Dingen habe ich zu tun.«
»Nein«, sagte der Professor, »ich lese kaum Zeitungen und solche schon gar nicht.«
Maler skizzierte in kurzen Worten den Fall. Mehrere Morde, scheinbar ohne jeden Zusammenhang. Im Mittelpunkt ein dubioser Geschäftsmann, dessen Geschäft darin bestand, anderer Leute Leben zu regeln.
»Ein Münchner, heißt Gabriel Tretjak. Kennen Sie den zufällig?«
»Nein, nie gehört.«
»Na, jedenfalls«, fuhr Maler fort, »kam dann heraus, der Mörder war der Vater von Tretjak. Eine Familientragödie, Marke Shakespeare. Der Mörder hat sich umgebracht und in einem Abschiedsbrief alles erklärt.«
»Gratuliere«, sagte der Professor, »dann ist der Fall ja gelöst. Stimmt also gar nicht, was Sie vorhin sagten: Sie müssten noch einen Serienmörder fangen.«
»Ja, der Fall
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