Der Regler
genommen, sondern in einem gesonderten Karton versenkt – wenn eben dieser Steiner nicht ermordet worden wäre, unmittelbar vor einem geplanten Treffen mit Tretjak. Doch außer dieser Verabredung konnte man keine Verbindung feststellen zu den Mordfällen in München und Bozen. Und ein BND -Beamter erklärte Gritz in einem persönlichen Gespräch – dem einzigen persönlichen Gespräch, das es in dieser Angelegenheit zwischen den Behörden gegeben hatte –, dass Überläufer nicht selten von ihrer Vergangenheit eingeholt würden. Irgendeine Rechnung, meinte der Beamte, bliebe da schon mal offen und müsse teuer bezahlt werden. Die Aufklärung solcher Morde sei meist unmöglich. Schließlich seien da Profis am Werk.
Pfarrer Joseph Lichtinger hatte mit der Messe begonnen, die im Freien vor dem Eingang der Kirche abgehalten wurde. Sofern man das überhaupt Messe nannte. Rainer Gritz kannte sich da nicht aus. Seine Eltern waren schon aus der Kirche ausgetreten, als er noch nicht geboren war, er war nicht getauft, Konfirmation, Kommunion, nichts dergleichen.
Es gab keine Musik hier vor der Kirche Santo Stefano, keine Kerze brannte, kein Weihrauchduft lag in der Luft. Die immer tiefer stehende Sonne blendete den Pfarrer. Lichtinger sprach in Lateinisch und Deutsch. Er sprach frei, ohne Buch vor sich. Das Leben des Verstorbenen wurde in wenigen Strichen angerissen, von der neuen Heimat hier am Lago Maggiore war die Rede, von der Ruhe, die Paul Tretjak hier gefunden zu haben schien, Betonung auf »schien«.
»Doch die Wege des Herrn sind unergründlich …«, in solche Formulierungen bettete Lichtinger die Tatsache, dass man hier versammelt war, um einen Mörder unter die Erde zu bringen. Er sprach davon, dass mit dem Tod alle irdische Feindschaft ein Ende habe, dass es jetzt nur noch einen Richter gebe. Dazwischen murmelten die Anwesenden zwei Gebete, eines auf Deutsch, ein anderes, das die immergleichen Sätze wiederholte, auf Lateinisch. Mit Blick auf den Sohn sprach der Pfarrer von der Last, die manchmal schwer auf den Schultern der Angehörigen liege, und Rainer Gritz musste an den dritten Brief denken, der in der Akte dieses Falls abgeheftet war, der sie gewissermaßen geschlossen hatte. Paul Tretjaks Brief an seinen Sohn, der mit den Worten endete:
Was meinst du, Gabriel?
Alles hatte dieser Brief geklärt. Der Brief und die Leiche im Zug. Beides war quasi frei Haus geliefert worden. Wie hatte noch der Schlafwagenschaffner geheißen, den Gritz vernommen hatte? Wie ein Fußballer … Labadia, das war es. Das Frühstück hatte er bringen wollen, der Herr Labadia, in die Kabine 17, erste Klasse, Wagen 5, im Nachtzug Mailand–München. Als auf sein Klopfen niemand öffnete, sperrte er mit seinem Vierkantschlüssel auf. Und alarmierte eine Minute später die Polizei. Maler und Gritz warteten schon am Bahnsteig, als der Zug im Münchner Hauptbahnhof einfuhr.
Ein friedlicher Anblick war es gewesen, dort in Kabine 17. Zunächst. Paul Tretjak lag auf dem Rücken im Bett, Gesicht zur Decke, die Augen geschlossen. Die weiße Bettdecke war bis unters Kinn gezogen. Darauf lag ein großes Stück Papier, mit blauem Filzstift beschrieben. Druckbuchstaben.
Ich bin tot. Bitte informieren Sie die Kriminalpolizei in München, Hauptkommissar Maler.
Auf dem ausklappbaren Nachtkästchen lagen die Schlaftabletten, Rohypnol, eine leere Flasche Wasser und ein Kuvert, beschriftet mit demselben Filzstift:
Für Gabriel.
Unter dem Tischchen stand ein weißer, unbeschrifteter Schuhkarton auf dem Boden. Als ein Beamter der Spurensicherung ihn öffnete, zuckte er zuerst zurück. Es befanden sich mehrere kleinere Dinge in dem Karton. Was den Beamten erschreckte, war der Inhalt eines kleinen Marmeladenglases: Sechs Augen schwammen darin herum, in einer durchsichtigen Flüssigkeit. Wodka, wie sich später im Labor herausstellen sollte. Die anderen Gegenstände in der Schachtel waren: eine Eiskugelzange, ein größeres Küchenmesser, ein durchsichtiges Beutelchen mit Haaren, ein kleines Bündel Quittungen, das von einer Büroklammer zusammengehalten wurde, zum Beispiel der Tankbeleg einer Autobahnraststätte bei München vom 11. Mai und die Auftragsbestätigung eines Floristen über Lieferung eines Rosenstraußes in die Sankt-Anna-Straße. Ein Handy der Marke Ericsson, auf dem Fotos aus der Wohnung Tretjaks gespeichert waren, die blutigen Wände, die tote Putzfrau in der Badewanne.
Vor der Kirche Santo Stefano nahmen die vier Männer
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