Der Regler
Wochen im Jahr verfluchte er diese Lage, wenn wenige Straßen weiter unten das Oktoberfest auf der Theresienwiese tobte, ansonsten wohnte er sehr gern hier. Nicht weit von seiner Wohnung lief die Landsberger Straße, und in dieser Straße residierte das Finanzamt München I. Gritz hatte schon länger vorgehabt, bei Frau Neustadt persönlich aufzutauchen, aber es hatte zeitlich nie funktioniert. Gritz war immer der Erste morgens in der Mordkommission. Wenn er kurz vor sieben Uhr am Finanzamt vorbeifuhr, war dort noch alles dunkel, und wenn er irgendwann abends zurückfuhr, war schon wieder alles dunkel. Doch an diesem Morgen klappte es. Es war kurz vor halb neun, als er vor dem Finanzamt parkte. Am Abend zuvor hatte ein Kollege vom Sittendezernat seinen Geburtstag in einer kleinen Kneipe gefeiert. Es war ein bisschen später geworden.
Rainer Gritz hatte dieses spezielle Gefühl öfter, und obwohl er noch nicht sehr lange dabei war, nahmen die Kollegen der Mordkommission dieses Gefühl inzwischen ernst, zu oft hatte es sich als höchst nützlich erwiesen. Gritz selbst hätte gar nicht von einem Gefühl gesprochen, eher von einem noch nicht zu Ende gebrachten Vorgang. In diesem Fall wollte er ein Bild überprüfen, das in seinem Kopf nicht zusammenpasste – auf der einen Seite die Frau, die im schicken schwarzen Kleid beinah theatralisch an der Seite von Gabriel Tretjak auf der Beerdigung eines Mörders den Berg am Lago Maggiore hinauflief, und auf der anderen die Finanzbeamtin, die Akten vor sich aufhäufte. Gritz wollte sich die biedere Seite dieses Kontrastes anschauen. Er wollte das komplette Bild von Fiona Neustadt. Als offiziellen Grund für seinen Besuch hatte er sich die Frage zurechtgelegt, ob er einen kurzen Blick in den Abschlussbericht der Steuersache Tretjak werfen dürfe.
Ins Finanzamt geht man also einfach rein, dachte Gritz. Da gab es keinen Pförtner, keine Zentrale, keine Info-Stelle. Nur ein mächtiges schwarzes Brett, auf dem mit weißer Schrift die Namen der Mitarbeiter vermerkt waren.
Neustadt, Zimmer 237, Gebäude
II , Steuersachen.
Gritz nahm die Treppe, ging in den zweiten Stock, rechts ins Gebäude II . Der Linoleumboden war grau und ein bisschen klebrig. Der fensterlose Gang hatte am Ende eine weiße Schwingtür mit matten Milchglasscheiben, Durchgang zum nächsten Gang. Es begegnete ihm eine Frau mit einem Blumentopf in der Hand. Wenn er das Wesen einer Behörde beschreiben sollte, dachte Gritz, dann würde er es mit dieser Szene versuchen: In Behörden liefen immer Frauen auf dem Gang herum, die einen Blumentopf in der Hand hatten.
Zimmer 237. Weiße Tür, schwarzes Schildchen mit zwei Namen: Neustadt, Pfister. Gritz klopfte, wartete kurz, ob eine Stimme antwortete, hörte nichts und öffnete vorsichtig die Tür. Ein Doppelschreibtisch inmitten des Zimmers, links saß ein Mann mit Bart und Glatze, rechts eine Frau, vielleicht Mitte fünfzig, geblümte Bluse, eher korpulent.
»Entschuldigung, ich bin auf der Suche nach Frau Neustadt«, sagte Gritz.
»Ja«, antwortete die Frau und blickte von ihren Akten auf.
»Fiona Neustadt?«, sagte Gritz.
»Jaaa!«, sagte die Frau, diesmal nicht nur gleichgültig, sondern leicht gereizt.
»Das muss ein Missverständnis sein, ich suche eine andere Frau Neustadt«, sagte Gritz und bemühte sich, seiner Stimme ein wenig Durchschlagkraft zu geben.
»Ich bin Fiona Neustadt. Und arbeite hier. Können Sie mir bitte sagen, was Sie wollen?«
Das weitere Gespräch zwischen den beiden ließ sich so zusammenfassen: Die Frau am Schreibtisch wurde freundlicher, als sie hörte, dass Gritz von der Polizei war, also eine Art Kollege, wie sie es empfand. Sie wurde ein wenig nervös, als sie allmählich verstand, dass es eine andere Frau gab, die sich auch Steuerprüferin und vor allem auch Fiona Neustadt nannte. Und die Frau wurde leicht hysterisch und bat ihren eisern schweigenden, bärtigen Kollegen um ein Glas Wasser, als sie begriff, dass diese andere Frau Neustadt möglicherweise etwas mit einer Mordserie zu tun hatte.
»Haben Sie irgendeine Ahnung«, fragte Gritz, »warum jemand in Ihre Identität geschlüpft ist? Bearbeiten Sie eine besondere Art von Steuerfällen?«
»Keine Ahnung«, sagte sie, »ich betreue ganz normale Fälle. Nichts Dramatisches. Wenn es dramatisch wird, geben wir die Fälle weiter an die dafür zuständigen Leute bei der Steuerfahndung.«
»Frau Neustadt«, sagte Gritz und korrigierte sich, »also die falsche Frau Neustadt war
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