Der Reisende
Gänsemarsch davon. Heute abend würde es im Ameisenhügel zweifellos ein Fest geben.
Sein Magen knurrte. Um die Wahrheit zu sagen – er hätte diesen Kuchen gern selbst verdrückt, und es wäre nicht viel davon übrig geblieben. Aber er würde nichts mehr essen, das von Vilate Franker kam, nie wieder. Dieser Frau konnte man nicht vertrauen.
Sie hat mir gegenüber die Zähne fallen lassen, dachte er. Sie haßt mich. Warum?
Es führte kein Weg darum herum. Selbst wenn sie bei der Auswahl der Geschworenen alles Glück der Welt hatten, und selbst mit diesem neuen Engländer als Alvins Anwalt, sah Little Peggy höchstens eine Chance von drei zu vier, daß er freigesprochen wurde, und das war ihr nicht gut genug. Sie würde zu ihm reisen müssen. Sie mußte für eine Aussage zur Verfügung stehen. Selbst bei allen Neuankömmlingen in Hatrack war eins gewiß: Wenn die Fackel Peggy sagte, daß etwas der Wahrheit entsprach, würde man ihr glauben. Die Leute von Hatrack wußten, daß sie die Wahrheit sah, und sie wußten auch – manchmal zu ihrer Verunsicherung – daß sie nichts sagte, das nicht stimmte, wenngleich sie ihr sehr dankbar dafür waren, daß sie nicht jede Wahrheit erzählte, die sie wußte.
Nur Peggy selbst konnte zählen, wie viele schreckliche oder schändliche oder traurige Geheimnisse sie nicht erwähnt hatte. Aber das war völlig nebensächlich. Sie war es gewöhnt, die Geheimnisse anderer Leute mit sich herumzutragen, war es von frühester Kindheit an gewöhnt, als sie sich mit dem dunklen Geheimnis des Ehebruchs ihres Vaters befassen mußte. Seit dieser Zeit hatte sie gelernt, kein Urteil zu fällen. Schließlich hatte sie sogar Liebe für Mistress Modesty empfunden, die Frau, mit der ihr Vater, der alte Horace Guester, untreu gewesen war. Mistress Modesty war wie eine zweite Mutter für sie, hatte ihr nicht das Leben des Körpers, sondern das des Geistes geschenkt, das Leben der ehrenwerten Gesellschaft, das Leben der Anmut und der Schönheit, das Peggy nun vielleicht zu sehr schätzte.
Vielleicht zu sehr, weil es in Alvins Zukunft nicht allzu viel Anmut und Schönheit gab, und ob es ihr nun gefiel oder nicht, Peggy war mit dieser Zukunft verbunden.
Wie ich mich doch selbst belüge, dachte sie. Fürwahr, »ob es ihr nun gefiel oder nicht«. Wollte ich es, könnte ich Alvin im Stich lassen und mich nicht darum kümmern, ob er im Gefängnis bleibt oder sich im Hio ertränkt oder was auch immer. Ich bin mit Alvin Smith verbunden, weil ich ihn liebe, und ich liebe, was er tun kann, und ich will Teil von allem sein, was er tun wird. Selbst bei den schweren Teilen. Selbst bei den undankbaren, unzivilisierten, dummen Teilen.
Also fuhr sie mit immer wieder anderen Postkutschen nach Hatrack River.
Eines bestimmten Tages kam sie im nördlichen Appalachee durch die Stadt Wheelwright. Sie lag am Hio, nicht weit flußaufwärts von der Stelle entfernt, an der der Hatrack mündete. So nah bei ihrem Zuhause, daß sie einen Wagen hätte mieten und die letzte Fähre nehmen und darauf vertrauen können, daß das Mondlicht und ihre Fähigkeit als Fackel sie sicher nach Hause bringen würden. Wäre sie zum Abendessen nicht in einem Restaurant eingekehrt, in dem sie schon einmal gegessen hatte. Dort war das Essen frisch zubereitet und schmeckte, und die Gesellschaft war respektabel – nach langen Tagen auf der Straße in jeder Hinsicht eine willkommene Abwechslung.
Während sie aß, hörte sie draußen eine Art Tumult – eine Kapelle spielte, ziemlich schlecht, aber mit beträchtlicher Begeisterung; die Leute jubelten ihr lautstark zu. »Eine Parade?« fragte sie den Kellner.
»Ihr wißt doch, in ein paar Wochen ist Präsidentschaftswahl«, sagte der Kellner.
Sie wußte es, hatte dem Umstand aber kaum Beachtung geschenkt. In jeder Stadt, durch die sie gekommen war, kandidierte irgendeiner gegen irgendeinen anderen um irgendein Amt, aber das war nicht weiter wichtig im Vergleich zu der Aufgabe, die Sklaverei zu beenden, ganz zu schweigen von ihrer Sorge um Alvin. Bis jetzt hatte es für sie keine Rolle gespielt, wer diese Wahlen gewinnen würde. In Appalachee wagte es – wie in den anderen Sklavenstaaten auch – keine Menschenseele, als Kandidat offen gegen die Sklaverei anzutreten – das wäre gleichbedeutend mit einem neuen Anzug aus Teer und Federn und einer Eisenbahnfahrt aus der Stadt gewesen, wenn nicht mit schlimmerem, denn jene, die die Sklaverei liebten, waren im Herzen gewalttätig, und jene, die
Weitere Kostenlose Bücher