Der Reisende
es auf die eine oder die andere Weise gleichbedeutend mit der Freiheit, diesen Fluß zu erreichen.
Doch Harrison würde diesem Fluß jede Bedeutung nehmen. Sollten seine Gesetze Wirklichkeit werden, würde der Sklave, der den Fluß überquerte, noch immer Sklave sein; nur der Sklave, der starb, würde frei sein.
Einer der Fährmänner, derjenige, der auf seiner Seite stakte, kam ihr bekannt vor. Sie war ihm schon einmal begegnet, obwohl ihm damals noch kein Ohr gefehlt und er keine Narben auf seinem Gesicht gehabt hatte. Nun kennzeichnete eine Schnittwunde ihn mit einer schwachen weißen Linie; an der Braue und der Lippe war sie etwas gekräuselt und verdreht. Es war ein schändlicher Kampf gewesen. Früher einmal hatte niemand Hand an diesen groben Mann legen können, und da er sich dessen ganz sicher gewesen war, war er ein brutaler Schläger gewesen. Doch jemand hatte ihm dieses Hexagramm genommen, das ihn zuvor sein Leben lang geschützt hatte. Alvin hatte gegen diesen Mann gekämpft, um Peggy zu verteidigen, und nach dem Ende des Kampfs war diese Flußratte erledigt gewesen. Aber nicht ganz; und sie lebte ja noch, nicht wahr?
»Mike Fink«, sagte sie leise, als er ans Ufer trat.
Er warf ihr einen scharfen Blick zu. »Kenne ich Euch, Ma’am?«
Natürlich kannte er sie nicht. Bei ihrer Begegnung – vor nicht ganz zwei Jahren – war sie mit Hexagrammen bedeckt gewesen, die sie viele Jahre älter erscheinen ließen. »Ich erwarte nicht, daß Ihr Euch an mich erinnert«, sagte sie. »Ihr müßt jedes Jahr viele tausend Leute über den Fluß bringen.«
Er half ihr, ihre Reisetaschen auf die Fähre zu bringen. »Ihr werdet in der Mitte des Floßes sitzen wollen, Ma’am.« Sie setzte sich auf die Bank, die quer über das Floß verlief. Er trat neben sie und wartete, während andere Leute zur Fähre geschlendert kamen – offensichtlich Einheimische, denn sie hatten kein Gepäck.
»Jetzt seid Ihr also Fährmann«, sagte sie.
Er betrachtete sie.
»Als ich Euch kannte, Mike Fink, wart Ihr eine gemeine Flußratte.«
Er lächelte schwach. »Ihr wart diese Lady«, sagte er. »Von Kopf bis Fuß mit Hexagrammen bedeckt.«
Sie musterte ihn eindringlich. »Ihr habt hindurch gesehen?«
»Nein, Ma’am. Aber ich konnte sie fühlen. Ihr habt mich beobachtet, wie ich mit diesem Jungen aus Hatrack River gekämpft habe.«
»Ja.«
»Er hat mir das Hexagramm genommen, das meine Mutter mir gab.«
»Ich weiß.«
»Ich schätze, Ihr wißt verdammt viel, wenn nicht sogar fast alles.«
Sie musterte ihn erneut. »Ihr scheint ebenfalls über ein überreichliches Wissen zu verfügen, Sir.«
»Ihr seid die Flamme Peggy, aus der Stadt Hatrack River. Und der Junge, der mir die Abreibung verpaßt und mein Hexagramm gestohlen hat, der sitzt jetzt in Hatrack im Gefängnis, weil er seinem Meister Gold gestohlen hat, als er noch Schmiedelehrling war.«
»Und ich nehme an, das freut Euch?« sagte Peggy.
Mike Fink schüttelte den Kopf. »Nein, Ma’am.«
Und als sie in sein Herzfeuer schaute, sah sie in der Tat keine Zukunft, in der er Alvin Schaden zufügte.
»Warum seid Ihr noch hier? Keine zehn Meilen von Hatrack Mouth entfernt, wo er Euch beschämt hat?«
»Wo er einen Mann aus mir gemacht hat«, sagte Mike.
Nun war sie in der Tat verblüfft. »So seht Ihr das also?«
»Meine Mutter wollte nicht, daß mir etwas passiert. Hat mir direkt auf den Hintern ein Hexagramm tätowieren lassen. Aber sie hat nicht daran gedacht, was für einen Menschen das aus mir macht. Ich wurde nie verletzt, ganz egal, welchen Schaden ich anderen zufügte. Ich habe Menschen getötet, einige schlechte, aber auch einige nicht ganz so schlechte. Ich habe Ohren und Nasen abgebissen und Arme und Beine gebrochen, und die ganze Zeit über war mir das alles – Verzeihung, Ma’am – verdammt egal. Weil nichts mich je verletzen konnte. Nichts mich je berührt hat.«
»Und seit Alvin Euch das Hexagramm genommen hat, tut Ihr keinen Menschen mehr weh?«
»Zum Teufel, nein!« sagte Mike Fink und lachte dann schallend auf. »Mann, Ihr wißt gar nichts über den Fluß, nicht wahr? Nein, nachdem sich herumgesprochen hatte, daß ein Schmiedejunge mich verprügelt und zum Heulen gebracht hatte, kam jeder angelaufen, den ich je im Kampf besiegt hatte! Ich mußte noch einmal gegen jede Klapperschlange und jedes Wiesel kämpfen, gegen jede Ratte und gegen jeden Haufen Schweinescheiße. Seht Ihr diese Narbe auf meinem Gesicht? Seht Ihr, wo mein Haar auf einer Seite
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