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Der Reisende

Der Reisende

Titel: Der Reisende Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Orson Scott Card
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das sie alle zerstörte.
    Heute war sie wieder auf dieser Mission. Eine Mietkutsche war gekommen, um sie zu einer Stadt namens Baker’s Fork zu bringen, und sie hatte schon ein gutes Stück des Weges hinter sich gebracht, und ihr war bereits heiß, und sie war durstig und verstaubt, wie Reisende im Sommer es immer waren, als sie ganz plötzlich neugierig wurde und unbedingt feststellen wollte, was sich auf einer bestimmten Straße befand.
    Nun war Peggy nicht auf gewöhnliche Art und Weise neugierig. Da sie seit frühester Kindheit das Talent hatte, die geheimsten Geheimnisse der Menschen zu kennen, hatte sie schon jung gelernt, vor einfacher Neugierde zurückzuschrecken. Sie wußte sehr wohl, daß es einige Dinge gab, die die Menschen besser nicht wußten. Als Kind hätte sie viel dafür gegeben, nicht zu wissen, was die Kinder in ihrem Alter von ihr hielten, welche Angst sie vor ihr hatten, welchen Abscheu sie ihr entgegenbrachten, weil sie so seltsam war und die Eltern der Kinder sich leise flüsternd über sie unterhielten. Und sie wäre froh gewesen, nicht die Geheimnisse der Männer und Frauen um sie herum zu kennen. Neugier war schon eine Strafe in sich, wenn man genau wußte, daß man die Antwort auf seine Fragen finden würde.
    Also war schon die bloße Tatsache überaus seltsam, daß sie – ausgerechnet – auf einen zerfurchten Feldweg in den niedrigen Hügeln des nördlichen Appalachee neugierig war. Und statt zu versuchen, dem Feldweg zu folgen, schaute sie in ihr eigenes Herzensfeuer, um festzustellen, was an dieser Straße lag. Doch jeder Pfad, den sie sah, auf dem sie dem Kutscher zurief und ihn bat, zu wenden und dem Feldweg zu folgen, jeder einzelne dieser Pfade führte zu einer leeren Stelle, zu einem Ort, von dem man nicht sagen konnte, was dort vielleicht passieren würde.
    Es war ganz fremd und seltsam für sie, nicht zu wissen, was bei einer bestimmten Sache herauskommen würde. Ungewißheit war sie gewöhnt, denn es gab viele Pfade, denen der Fluß der Zeit folgen konnte. Aber keinen Schimmer zu haben – das war in der Tat neu. Neu und – sie mußte es eingestehen – attraktiv.
    Sie versuchte, sich zu warnen, sagte sich, wenn sie nichts sehen konnte, dann mußte der Unschöpfer sie blockieren und auf dieser Straße ein schreckliches Schicksal auf sie warten.
    Aber es fühlte sich nicht nach dem Unschöpfer an. Es fühlte sich richtig an, dem Feldweg zu folgen. Machen die anderen Leute das die ganze Zeit über mit? fragte sie sich. Nichts zu wissen, die Zukunft ein leerer Ort, darauf angewiesen, sich auf solche Gefühle zu verlassen? Hat George Washington so ein Kribbeln gefühlt, als er den Rebellen von Appalachee die Kapitulation seines Heers erklärte und sich dann dem König überstellte, den er verraten hatte? Ganz bestimmt nicht, denn der alte George hatte natürlich gewußt, was dabei herauskommen würde. Vielleicht hatte Patrick Henry dieses Prickeln gefühlt, als er »Gebt mir Freiheit, oder gebt mit den Tod!« rief, da er keine Ahnung hatte, was davon, wenn überhaupt etwas, er bekommen würde. Zu handeln, ohne zu wissen …
    »Wendet!« rief sie.
    Der Kutscher hörte sie über dem Klappern der Pferdehufe und dem Scheppern und Ächzen der Kutsche nicht.
    Sie hämmerte mit dem Schirm gegen das Dach der Kutsche. »Wenden!«
    Der Kutscher zügelte die Pferde. Als sie standen, schob er die winzige Luke auf, die einen Wortwechsel zwischen dem Kutscher und den Passagieren ermöglichte. »Was, Ma’am?«
    »Ihr sollt wenden!«
    »Ich hab keine falsche Abzweigung genommen, Ma’am.«
    »Das weiß ich. Ich will dem Feldweg folgen, an dem wir gerade vorbeigefahren sind.«
    »Der führt doch nur nach Chapman Valley.«
    »Ausgezeichnet. Dann bringt mich nach Chapman Valley.«
    »Aber die Schulbehörde von Baker’s Fork hat mich angeheuert, Euch zu holen.«
    »Wir müssen doch sowieso irgendwo übernachten. Warum nicht in Chapman Valley?«
    »Die haben kein Gasthaus.«
    »Trotzdem. Entweder, Ihr dreht um, oder Ihr wartet hier, während ich diesen Feldweg hinaufgehe.«
    Die Luke glitt zu – vielleicht abrupter und lauter, als es nötig gewesen wäre –, und die Kutsche beschrieb auf der Wiese einen großen Bogen und machte kehrt. Es war in den letzten paar Tagen trocken gewesen, so daß sie problemlos wenden konnten, und kurz darauf fuhren sie den Weg entlang, der sie so neugierig gemacht hatte.
    Als sie das Tal sah, kam es ihr schön vor, wenngleich an seiner Schönheit nichts

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