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Der Reisende

Der Reisende

Titel: Der Reisende Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Orson Scott Card
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bemerkenswert war. Abgesehen von dem wilden Wald auf den Kuppen der umgebenden Hügel war das gesamte Tal kultiviert; die Bäume standen dort, wo sie gepflanzt worden waren, die Häuser waren dafür geschaffen, die immer größer werdenden Familien zu beherbergen, die dort wohnten. Vielleicht waren die Mauern etwas frischer gestrichen, vielleicht mit einem helleren Weiß als an anderen Orten – oder vielleicht war auch nur Peggys Wahrnehmungsvermögen etwas durcheinander geraten, weil sie besonders scharf hinschaute, um festzustellen, was ihre Neugier erregt hatte. Vielleicht waren die Obstbäume älter als üblich, und knorriger, als wäre der Ort schon vor langer Zeit gegründet worden, eine der ersten Ansiedlungen in Appalachee. Aber wie kam sie nur auf diesen Gedanken? Alles in Amerika war neu; in dieser Stadt lebte bestimmt noch jemand, der sich an ihre Gründung erinnerte. Nichts, was westlich von der ersten Gebirgskette lag, war älter als die Lebensspanne des ältesten Bewohners.
    Wie immer nahm sie die Herzensfeuer der Menschen wahr, die hier wohnten, wie Lichtfunken, die man selbst am hellsten Mittag noch sehen konnte, durch alle Mauern, hinter allen Hügeln, in allen Dachstuben oder Kellern, oder wo auch immer sie sein mochten. Bei diesen Leuten handelte es sich um ganz normale Städter; vielleicht waren sie etwas zufriedener als andere, aber sie waren nicht gefeit vor dem Leid des Lebens, vor kleinkariertem Groll, vor Trauer und Neid. Warum war sie hierher gekommen?
    Sie kamen zu einem Haus, in dem niemand wohnte. Sie schlug erneut ans Dach der Kutsche. Die Pferde wurden mit einem »Brr!« angehalten, und die kleine Luke öffnete sich. »Wartet hier«, sagte sie.
    Sie hatte keine Ahnung, warum dieses Haus, das leere, ihre Neugier erregte. Vielleicht lag es daran, daß es offensichtlich um eine winzige Blockhütte entstanden, zuerst wohlhabend, dann groß, dann einfach nur noch riesig geworden war, während die Ästhetik dem Bedürfnis nach mehr Raum, mehr Raum gewichen war. Aber wieso wohnte niemand in einem so großen, gut erhaltenen Haus?
    Dann wurde ihr klar, daß sie Gesang aus dem Haus kommen hörte. Gesang und Gelächter, und trotzdem sah sie kein Herzfeuer. So etwas Seltsames hatte sie ihr ganzes Leben lang noch nicht erlebt. War das ein Spukhaus? Wohnten hier die rastlosen Toten, die nicht imstande waren, das Leben loszulassen? Aber wer hatte je von einem Gespenst gehört, das lachte? Oder ein so fröhliches Lied sang?
    Und sieh an, dort lief ein Junge von höchstens sechs Jahren um das Haus, verfolgt von drei älteren Mädchen. Ohne Herzfeuer. Aber dem Schmutz auf dem Gesicht des Jungen und der Wut in den Augen der rotgesichtigen Mädchen nach zu urteilen, konnte es sich nicht um herumirrende Totengeister handeln.
    »Hallo, ihr da!« rief Peggy und winkte.
    Der Junge schaute erschrocken zu ihr hinüber. Diese Pause war sein Verderben, denn die Mädchen holten ihn ein und verprügelten ihn mit großer Begeisterung; seine Reaktion bestand darin, ebenso kräftig zu heulen und sie unflätig zu verfluchen. Peggy kannte sie zwar nicht, hatte aber wenig Zweifel daran, daß der Junge, wie es Jungs nun mal zu eigen ist, irgendeinen elenden Unfug angestellt hatte, der die Mädchen – seine Schwestern? – erzürnt hatte. Sie hatte ebenfalls wenig Zweifel daran, daß die Mädchen, obwohl sie unweigerlich ihre Unschuld beteuern würden, zuvor ihn provoziert hatten, aber subtil und nur verbal, so daß er niemals auf eine Prellung zeigen und seine Mutter auf seine Seite ziehen konnte. So lief nun mal der endlose Krieg zwischen männlichen und weiblichen Kindern ab. Doch ob sie nun eine Fremde war oder nicht, Peggy konnte nicht zulassen, daß die Gewalttätigkeit der Mädchen außer Kontrolle geriet, und es hatte den Anschein, als seien sie nicht geneigt, mit dem entschlossenen Verprügeln des heulenden Jungen allzu schnell aufzuhören. Sie verabreichten ihm die Tracht Prügel nicht zum Spaß, sondern als verdienten sie damit die Butter für ihr Brot und als würde ein Aufseher ihr Werk später begutachten und ein Urteil fällen: »Ich würde sagen, der Junge wurde gut verprügelt. Na schön, ihr sollt euren Taglohn bekommen.«
    »Hört sofort auf!« sagte sie und schritt über den von Ziegen abgeweideten Hof.
    Sie ignorierten sie, bis sie direkt hinter ihnen stand und zwei der Mädchen am Kragen gepackt hatte. Selbst jetzt schwangen sie noch ihre Fäuste, und nicht wenige der Schläge landeten auf Peggy

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