Der Reisende
er auf sein Pferd steigen konnte. Nach ein paar Minuten waren sie fertig und ritten scharf in südliche Richtung weiter, auf einem Netzwerk von Straßen, auf dem sie Wheelwright völlig umgehen konnten – einschließlich der schmucken Kutsche, die den ganzen Tag leer am Fluß wartete, bis Horace Guester übersetzte, einstieg und losfuhr, um auf dem großen Markt der Stadt, der Wheelwrights ganzer Stolz war, Lebensmittel zu kaufen. Nun hatten die Rohlinge begriffen, daß sie hereingelegt worden waren. Oh, einige von ihnen machten sich auf die Suche nach Alvins Gruppe, doch die hatte einen ganzen Tag Vorsprung – oder fast einen Tag –, und sie fanden nur zwei Männer, die mit den Ärschen in der Luft vor einem Holzklotz knieten.
Den ganzen Weg bis zur Küste rechnete Calvin damit, von Napoleons Soldaten angesprochen zu werden. Wenn nicht gleich die Kutsche selbst von Kartätschen zerfetzt oder in Brand gesteckt wurde oder ein anderes schreckliches Ende fand. Er wußte nicht, wieso er erwartete, daß Napoleon sich als undankbar erweisen würde. Vielleicht war es nur ein Gefühl allgemeinen Unbehagens. Hier war er, noch keine zwanzig Jahre alt, und er hatte sich bereits in den Salons von London und Paris aufgehalten, Stunden damit verbracht, mit dem mächtigsten Mann der Erde tausend verschiedene Dinge zu diskutieren, hatte so viele der Geheimnisse dieses mächtigen Mannes gelernt, wie dieser wahrscheinlich jemals verraten würde, konnte sich in der französischen Sprache verständlich machen, wenn er sie nicht sogar fließend beherrschte, und hatte das alles lebendig und unberührt überstanden, ohne daß der Traum seines Lebens sich verändert hätte. Er war ein Schöpfer, ein viel größerer als Alvin, der weiterhin an der rauhen Grenze eines ungehobelten, aufstrebenden Landes verblieb, das sich noch nicht einmal Nation nennen konnte. Wen kannte Alvin denn schon, mal abgesehen von anderen Leuten, die so einfach waren wie er selbst? Und doch verspürte Calvin eine verschwommene Angst davor, nach Amerika zurückzukehren. Irgend etwas schien ihn aufzuhalten. Etwas wollte nicht, daß er heimkehrte.
»Es sind die Nerven«, sagte Honore. »Du wirst deinen Bruder wiedersehen. Du weißt jetzt, daß er ein Provinzkasper ist, aber er bleibt trotzdem deine Nemesis, der Stab, an dem du dich messen mußt. Und du reist mit mir und bist dir ständig der Notwendigkeit bewußt, einen guten Eindruck machen zu müssen.«
»Und warum sollte ich dich beeindrucken müssen, Honore?«
»Weil ich dich eines Tages in eine Geschichte schreiben werde, mein Freund. Bedenke stets, daß ich diese höchste Macht habe. Du magst bis zu einem gewissen Punkt entscheiden, was du mit deinem Leben anfängst. Aber ich werde entscheiden, was andere von dir denken werden, und zwar nicht nur jetzt, sondern auch noch lange, nachdem du tot bist.«
»Falls dann noch jemand deine Romane liest«, sagte Calvin.
»Du verstehst nicht, mein lieber Bauerntölpel. Ob man meine Romane noch liest oder nicht, die Einschätzung deines Lebens wird Bestand haben. Solche Dinge entwickeln ein eigenes Leben. Niemand erinnert sich mehr an die ursprüngliche Quelle oder interessiert sich noch dafür.«
»Also werden die Leute sich nur daran erinnern, was du über mich zu sagen hast – und an dich werden sie sich überhaupt nicht erinnern.«
Honore kicherte. »Oh, da wäre ich mir nicht so sicher, Calvin. Ich habe vor, unvergeßlich zu werden. Aber andererseits … was interessiert es mich schon, ob man sich an mich erinnert? Ich habe ohne die Zuneigung meiner Mutter gelebt; warum sollte ich mich nach der Zuneigung von Fremden sehnen, die noch nicht mal geboren sind?«
»Es geht nicht darum, ob man sich an dich erinnert«, sagte Calvin. »Sondern darum, ob du die Welt verändert hast.«
»Und die erste Veränderung, die ich erzielen werde, ist: Sie müssen sich an mich erinnern!« Honores Stimme war so laut, daß der Kutscher das Paneel öffnete und sich erkundigte, ob sie etwas von ihm wollten. »Mehr Geschwindigkeit«, rief Honore, »und weichere Stöße in den Schlaglöchern. Ach ja, und wenn die Pferde sich erleichtern: weniger Gestank.«
Der Kutscher knurrte und schloß die Klappe wieder.
»Hast du nicht vor, die Welt zu verändern?« fragte Calvin.
»Sie zu verändern? Ein armseliges Vorhaben, das nach schwachem Ehrgeiz und viel Selbstverachtung schmeckt. Dein Bruder will eine Stadt bauen. Du willst sie vor seinen Augen niederreißen. Ich bin derjenige mit
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