Der Reisende
erzählt.«
»Ich bin Wandergeselle, Ma’am. Wenn Makepeace davon nichts erzählt, frage ich mich, wieviel von dem wahr ist, was er sagt.«
Sie lächelte, aber ihre Augen lächelten nicht. Sie waren berechnend. »Aha. Ich glaube, daraus läßt sich eine gute Geschichte machen. Sie muß nur noch etwas umgerührt werden.«
Sofort bedauerte Alvin, ihr so viel gesagt zu haben. Warum hatte er überhaupt so kühn gesprochen? Er war keiner, der Fremden alles sofort erzählte, vor allem nicht, wenn er einen anderen mehr oder weniger einen Lügner nannte. Er wollte mit Makepeace keinen Ärger haben, doch nun sah es ziemlich so aus, als würde er ihn trotzdem kriegen. »Ich wünschte, Ihr würdet mir sagen, wer Ihr seid, Ma’am.«
Nicht ihre Stimme antwortete. Horace Guester stand nun auf der Schwelle. »Sie ist die Postmeisterin von Hatrack River, wenn auch nur aufgrund der Tatsache, daß der Schwager ihres Onkels der Kongreßabgeordnete irgendeines Bezirks in Susquahenny ist und einen gewissen Einfluß auf den Präsidenten hat. Wir alle hoffen, bei der Wahl in diesem Herbst einen Kandidaten zu finden, der verspricht, sie aus dem Amt zu jagen, damit wir ihn dann als Präsident wählen können. Wenn das nicht klappt, werden wir sie eines Tages an einem Baum aufknüpfen müssen.«
Die Postmeisterin setzte ein verzerrtes Lächeln auf. »Und dabei hat Horace Guester das Talent, dafür zu sorgen, daß die Leute sich bei ihm willkommen fühlen!«
»Wie würde bei dem Hängen die Anklage lauten?« fragte Alvin.
»Verbrecherischer Klatsch«, sagte Horace Guester. »Mit Vorbedacht in die Welt gesetzte Gerüchte. Vorsätzliche Angriffe aus dem Hinterhalt. Verleumdung mit tödlicher Absicht. Natürlich meine ich das alles so nett wie möglich.«
»Ich tue nichts dergleichen«, sagte die Postmeisterin. »Und da Horace sich noch nicht dazu herabgelassen hat, ihn zu nennen … mein Name ist Vilate Franker. Meine Großmutter stand sich mit der Rechtschreibung nicht besonders gut, und so nannte sie meine Mutter Violet, Veilchen, schrieb das Wort aber, wie sie es sprach, nämlich Vilate. Und als meine Mutter erwachsen war, schämte sie sich Großmutters Analphabetentums dermaßen, daß sie das Wort nun so aussprach, daß es sich mit ›plate‹ reimt, also mit Teller. Aber ich schäme mich nicht meiner Großmutter, und so spreche ich es Violet aus, wie die schöne Blume.«
»Was sich mit Pilate reimt«, sagte Horace, »mit Pilatus, wie in Pontius der Händewascher.«
»Ihr sprecht aber wirklich sehr viel, Ma’am«, sagte Arthur Stuart. Er sprach in aller Unschuld, gab lediglich die Tatsachen wieder, wie er sie sah, doch Horace lachte laut und johlend auf, und Vilate errötete, schnalzte mit der Zunge, öffnete dann weit den Mund und ließ zu Alvins Erschütterung ihre obere Zahnreihe auf die untere hinabfallen. Ein Gebiß! Und so ein schreckliches Bild – aber weder Arthur noch Horace schienen gesehen zu haben, was sie getan hatte. Sie glaubte anscheinend, hinter ihrer Mauer der Illusion mit allen möglichen häßlichen, verächtlichen Gesten davonkommen zu können. Nun, Alvin würde sie nicht davon abbringen. Noch nicht.
»Verzeiht dem Jungen«, sagte Alvin. »Er hat noch nicht gelernt, wann der richtige Zeitpunkt ist, seine Gedanken auszusprechen.«
»Er hat recht«, erwiderte sie. »Warum sollte er das nicht sagen?« Aber sie grinste den Jungen erneut an und ließ wieder die Zähne fallen. »Ich finde es unwiderstehlich, Geschichten zu erzählen«, fuhr sie fort. »Selbst wenn ich weiß, daß mein Publikum sie gar nicht hören will. Das ist mein schlimmstes Laster. Aber es gibt schlimmere – und ich danke dem lieben Gott, daß ich die nicht habe.«
»Ach, ich mag auch Geschichten«, sagte Arthur Stuart. »Kann ich mal vorbeikommen und zuhören, wenn Ihr noch ein paar erzählt?«
»Wann immer du willst, mein Junge. Hast du einen Namen?«
»Arthur Stuart.«
Jetzt brach Vilate in johlendes Gelächter aus. »Irgendeine Verwandtschaft mit dem geschätzten König in Camelot?«
»Ich wurde nach ihm benannt«, sagte er, »aber soweit ich weiß, sind wir nicht miteinander verwandt.«
Horace ergriff wieder das Wort. »Vilate, weil der Junge ohne Arg und auch ohne Verstand ist, habt Ihr einen neuen Anhänger gewonnen. Aber würdet Ihr trotzdem freundlicherweise zur Seite treten, damit ich diesen Mann willkommen heißen kann, der in meinem Haus geboren wurde, und diesen Jungen, der darin aufwuchs.«
»Offensichtlich habe ich
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