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Der Reisende

Der Reisende

Titel: Der Reisende Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Orson Scott Card
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Beine. Dann trugen sie ihn halb aus dem Cafe.
    Es war erstaunlich. Es war unmöglich. Dies mußte eine Reaktion auf den Bericht des Geheimpolizisten sein. Aber warum sollten sie ihn verhaften? Welches Gesetz hatte er gebrochen? Lag es nur daran, daß er Englisch sprach? Sicher war ihnen doch der Unterschied zwischen einem Engländer und einem Amerikaner klar. Die Engländer führten noch Krieg – oder etwas Ähnliches – gegen Frankreich, aber die Amerikaner waren – mehr oder weniger – neutral. Wie konnten sie es also wagen?
    Als Calvin in dem viel zu schnellen Tempo, das die Gendarmen vorlegten, mit ihnen unter Schmerzen mithoppelte, spielte er kurz mit dem Gedanken, seine schöpferischen Kräfte einzusetzen, um die Fesseln zu lockern und sich dann von ihnen zu befreien. Aber die Gendarmen waren bewaffnet, und Calvin wollte sie nicht in Versuchung bringen, ihre Waffen gegen einen fliehenden Gefangenen einzusetzen.
    Und nach den ersten paar Minuten verschwendete er seine Kräfte auch nicht mehr mit dem Versuch, ihnen zu erklären, ihnen müsse ein schrecklicher Fehler unterlaufen sein. Das war doch völlig sinnlos. Sie wußten, wer er war; jemand hatte ihnen befohlen, ihn zu verhaften. Was interessierte es sie, ob es ein Fehler war oder nicht? Jedenfalls war es nicht ihr Fehler.
    Eine halbe Stunde später nahm man ihm die Fesseln ab und warf ihn in eine elend stinkende Zelle in der Bastille.
    »Willkommen im Land der Guillotine!« krächzte jemand, der in einer Zelle ein Stück weiter den Gang hinauf saß. »Willkommen, o Pilger, im Schrein der Heiligen Klinge!«
    »Halt die Klappe!« rief ein anderer.
    »Sie haben heute schon wieder einem den Kopf abgeschnitten, demjenigen, der in der Zelle war, in der du jetzt sitzt, neuer junge! Das passiert mit Engländern hier in Paris, sobald jemand zum Schluß kommt, daß du ein Spion bist.«
    »Aber ich bin kein Engländer!« rief Calvin.
    Gellendes Gelächter antwortete ihm.
    Peggy setzte die Feder müde ab und schloß entrüstet die Augen. Steckte dahinter irgendein Plan? Derjenige, der Alvin in die Welt hinausschickte, der ihn beschützte und auf die große Aufgabe vorbereitete, die Kristallstadt zu bauen – hatte derjenige nicht irgendeinen Plan? Nein, es mußte irgendeine Bedeutung hinter der Tatsache stecken, daß an genau dem Tag, da Alvin in Hatrack River im Gefängnis saß, Calvin in Paris ebenfalls ins Gefängnis kam. Die Bastille war natürlich etwas ganz anderes als ein Raum im zweiten Stock auf der Rückseite des Gerichtshauses in Hatrack River, aber Gefängnis war Gefängnis – beide waren sie eingesperrt, ohne jeden Grund, und hatten keine Ahnung, wie das alles enden würde.
    Aber Peggy wußte es. Sie sah alle Wege. Und schließlich legte sie die Feder beiseite, steckte die Papiere weg, an denen sie geschrieben hatte, und stand auf, um ihren Arbeitgebern zu sagen, daß sie früher als erwartet abreisen mußte. »Ich glaube, ich werde woanders gebraucht.«
    Bonapartes Neffe war ein Wiesel, das sich für ein Hermelin hielt. Nun ja, sollte er doch seine Illusionen haben. Hätten die Menschen keine Illusionen, wäre Bonaparte nicht Kaiser von Europa und Gesetzgeber der Menschheit. Ihre Illusionen waren seine Wahrheit; ihre Begierden waren sein Herzenswunsch. Was auch immer sie von sich glauben wollten, Bonaparte half ihnen dabei, es zu glauben, im Austausch für die Kontrolle über ihr Leben.
    Kleiner Napoleon, so nannte der Junge sich. Die Hälfte von Bonapartes Neffen war Napoleon genannt worden, um sich bei ihm einzuschmeicheln, aber nur dieser hatte die Frechheit, den Namen auch bei Hofe zu benutzen. Bonaparte war sich nicht ganz sicher, ob das bedeutete, daß Kleiner Napoleon kühner als die anderen war oder einfach zu dumm, um zu begreifen, wie gefährlich es war, den Namen des Kaisers zu benutzen, als wolle er damit seinen Anspruch geltend machen, dessen Nachfolge anzutreten. Als er ihn nun sah, wie er wie ein mechanischer Soldat hier hereinmarschiert kam – als habe er irgendeine militärische Leistung vollbracht, von der niemand wußte und die ihn dennoch berechtigte, in diesen Saal zu stolzieren, als sei er General –, hätte Bonaparte ihm gern ins Gesicht gelacht und vor aller Welt die Träume des Kleinen Napoleon aufgedeckt, auf dem Thron zu sitzen, die Welt zu beherrschen und die Leistungen seines Onkels zu übertreffen. Bonaparte wollte ihm in die Augen sehen und sagen: »Du könntest noch nicht mal meinen Nachttopf füllen, du dünkelhafter

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