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Der Report der Magd

Der Report der Magd

Titel: Der Report der Magd Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
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Woche. Das muß ich den Marthas erzählen: so etwas hören sie immer gern. Sie interessieren sich brennend dafür, wie es in anderen Haushalten zugeht; solche Häppchen banalen Klatsches geben ihnen Anlaß zu Stolz oder Unzufriedenheit.
    Ich nehme das Hähnchen entgegen, in Fleischerpapier eingewickelt und mit Bindfaden verschnürt. Es gibt nicht mehr viele Dinge aus Plastik. Ich erinnere mich an die endlosen weißen Plastikeinkaufstüten vom Supermarkt; es widerstrebte mir, sie ungenutzt wegzuwerfen, und so stopfte ich sie in das Schränkchen unter der Spüle, bis der Tag kam, an dem es zu viele waren und sie, als ich die Tür öffnete, herausquollen und über den Küchenboden glitten. Luke beschwerte sich immer darüber. Von Zeit zu Zeit nahm er alle Tüten und warf sie fort.
    Sie könnte sich so ein Ding über den Kopf ziehen, sagte er. Du weißt doch, auf welche Ideen Kinder beim Spielen kommen. Das würde sie niemals tun, sagte ich. Dazu ist sie schon zu groß. (Oder zu gescheit, oder zu fröhlich.) Trotzdem lief mir jedesmal ein kalter Schauer den Rücken hinunter, und dann kam das schlechte Gewissen, daß ich so unvorsichtig gewesen war. Es stimmte, ich nahm allzu vieles als selbstverständlich hin: ich vertraute dem Schicksal, damals. Dann bewahre ich sie weiter oben im Küchenschrank auf, sagte ich. Bewahre sie überhaupt nicht auf, sagte er. Wir benutzen sie ja doch nicht mehr. Für den Abfall, sagte ich. Worauf er sagte…
    Nicht hier und jetzt. Nicht, wo die Leute hersehen. Ich drehe mich um, sehe meine Silhouette in dem Spiegelglasfenster. Dann sind wir also schon wieder draußen, wir sind wieder auf der Straße.
     
    Eine Gruppe von Menschen kommt auf uns zu. Es sind Touristen, aus Japan, wie es scheint, vielleicht eine Handelsdelegation bei der Besichtigung der historischen Sehenswürdigkeiten oder auf der Suche nach Lokalkolorit. Sie sind winzig und sehr ordentlich gekleidet; jeder hat seine Kamera, jeder sein Lächeln. Sie schauen sich um, mit blanken Augen, halten ihre Köpfe schief wie Rotkehlchen, ihre Munterkeit hat etwas Aufreizendes, und ich kann nicht anders, ich muß sie anstarren. Es ist schon lange her, daß ich Frauen mit so kurzen Röcken gesehen habe. Die Röcke reichen bis eben über die Knie, und die Beine sehen darunter hervor, fast nackt in ihren dünnen Strümpfen, auffällig, die hochhackigen Schuhe mit den an den Füßen befestigten Riemchen – wie zierliche Folterinstrumente. Die Frauen schwanken auf ihren mit spitzen Dornen versehenen Füßen, als gingen sie auf Stelzen und wären aus dem Gleichgewicht geraten; ihre Rücken sind in der Taille gebogen, der Po nach hinten gestreckt. Ihre Köpfe sind unbedeckt, das Haar frei und bloß in all seiner Dunkelheit und Sinnlichkeit. Sie tragen Lippenstift, das Rot umreißt die feuchten Höhlen ihrer Münder, wie Kritzeleien an Toilettenwänden in der Zeit davor.
    Ich bleibe stehen. Desglen neben mir bleibt ebenfalls stehen, und ich weiß, daß auch sie die Augen nicht abwenden kann von diesen Frauen. Wir sind gebannt, aber auch abgestoßen. Sie kommen uns unbekleidet vor. Wie wenig Zeit es gebraucht hat, um unsere Ansichten über solche Dinge zu verändern!
    Dann denke ich: Ich habe mich früher auch so angezogen. Das war Freiheit.
    Verwestlicht, wurde es genannt.
    Die japanischen Touristen kommen zwitschernd auf uns zu, und wir wenden unsere Köpfe ab, zu spät: Sie haben unsere Gesichter gesehen.
    Sie werden von einem Dolmetscher begleitet, der den blauen Einheitsanzug und eine rotgemusterte Krawatte mit dem geflügelten Auge auf der Krawattennadel trägt. Er tritt jetzt einen Schritt vor, aus der Gruppe heraus und vor uns hin und versperrt uns den Weg. Die Touristen sammeln sich hinter ihm; einer hebt eine Kamera.
    »Entschuldigen Sie«, sagt der Dolmetscher außerordentlich höflich zu uns beiden. »Sie fragen, ob sie Sie fotografieren dürfen.«
    Ich schaue zu Boden, auf den Bürgersteig, und schüttle den Kopf: Nein. Sie dürften jetzt nur die weißen Flügel von mir sehen, ein Stückchen von meinem Gesicht, mein Kinn und einen Teil meines Mundes. Nicht die Augen. Ich hüte mich, dem Dolmetscher ins Gesicht zu sehen. Die meisten Dolmetscher sind Augen, so heißt es jedenfalls.
    Ich hüte mich auch, ja zu sagen. Bescheiden sein ist unsichtbar sein, pflegte Tante Lydia zu sagen. Vergeßt das nie. Gesehen werden, gesehen werden, bedeutet, und hier zitterte ihre Stimme, penetriert zu werden. Und ihr, Mädels, müßt undurchdringlich,

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