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Der Report der Magd

Der Report der Magd

Titel: Der Report der Magd Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
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anschauen, von Frauen in langen düsteren Gewändern, das Haar mit weißen Hauben bedeckt, und von aufrechten Männern, dunkel gekleidet und ohne ein Lächeln. Unsere Vorfahren. Der Eintritt ist frei.
    Wir gehen jedoch nicht hinein, sondern bleiben auf dem Weg stehen und schauen zum Friedhof hinüber. Die alten Grabsteine sind noch da, verwittert, mit ihren Totenschädeln und gekreuzten Knochen, memento mori, mit ihren teiggesichtigen Engeln, ihren geflügelten Stundengläsern, die uns an das Vergehen der sterblichen Zeit erinnern sollen, und mit ihren aus einem späteren Jahrhundert stammenden Urnen und Weiden, zum Trauern.
    An den Grabsteinen haben sie sich nicht zu schaffen gemacht, und auch nicht an der Kirche. Nur die jüngere Geschichte ist ihnen ein Stein des Anstoßes.
    Desglen hat den Kopf gesenkt, als bete sie. Das tut sie jedesmal. Vielleicht, denke ich, gibt es auch für sie jemanden, einen wichtigen Menschen, der fort ist – einen Mann, ein Kind. Doch kann ich es nicht recht glauben. Ich halte sie für eine Frau, bei der alles, was sie tut, nur um des Scheines willen geschieht, mehr Theater ist als wirkliche Tat. Sie tut solche Dinge, um nach außen hin gut dazustehen, nehme ich an. Sie ist darauf aus, das Beste daraus zu machen.
    Aber genau so muß ich auch ihr vorkommen. Wie könnte es anders sein?
    Jetzt kehren wir der Kirche den Rücken zu, und dort ist das, weswegen wir in Wirklichkeit hergekommen sind. Die Mauer.
    Die Mauer ist ebenfalls Hunderte von Jahren alt, oder zumindest über einhundert Jahre. Wie die Bürgersteige ist sie aus roten Ziegelsteinen und muß einst schlicht, aber schön anzusehen gewesen sein. Jetzt stehen Wachen an den Toren, und häßliche neue Flutlichtlampen an Metallmasten ragen darüber empor, und unten zieht sich Stacheldraht entlang, und oben sind Glasscherben in den Beton auf der Mauerkrone eingelassen.
    Niemand geht aus freien Stücken durch diese Tore. Die Vorsichtsmaßnahmen gelten denen, die herauszukommen versuchen, obwohl es nahezu unmöglich ist, von drinnen auch nur bis an die Mauer zu gelangen, an all den elektronischen Alarmsystemen vorbei.
    Neben dem Haupttor baumeln sechs neue Leichen, am Hals aufgeknüpft, die Hände vorn zusammengebunden, die Köpfe in weißen Säcken und seitwärts auf die Schultern gefallen. Früh am Morgen muß eine Errettung von Männern stattgefunden haben. Ich habe die Glocken nicht gehört. Vielleicht habe ich mich schon an sie gewöhnt.
    Wir bleiben stehen, beide im gleichen Moment, wie auf Kommando, und betrachten die Leichen. Es macht nichts, wenn wir hinsehen. Wir sollen sogar hinsehen, dazu sind sie dort ausgestellt, dazu hängen sie an der Mauer. Manchmal hängen sie dort tagelang, bis eine neue Ladung kommt, damit möglichst viele Leute die Gelegenheit haben, sie zu sehen.
    Sie hängen an eisernen Haken. Die Haken sind zu diesem Zweck in das Mauerwerk eingelassen worden. Nicht an allen hängt einer. Die Haken sehen aus wie Hilfsgeräte für Armamputierte. Oder wie eiserne Fragezeichen, auf den Kopf gestellt und seitenverkehrt.
    Das Schlimmste sind die Säcke, die ihnen über die Köpfe gezogen sind – schlimmer als es der Anblick der Gesichter wäre. Sie machen aus den Männern Puppen, denen noch keine Gesichter gemalt worden sind – wie Vogelscheuchen, was sie in gewisser Weise ja auch sind, denn sie sind dazu bestimmt, Schrecken zu verbreiten. Oder als wären ihre Köpfe Säcke, ausgestopft mit Undefinierbarem, wie Mehl oder Teig. Es ist die offensichtliche Schwere der Köpfe, ihre Leere, die Art, wie die Schwerkraft sie nach unten zieht und kein Leben mehr da ist, das sie aufrecht hält. Die Köpfe sind Nullen.
    Obwohl man, wenn man länger hinsieht und immer wieder, wie wir es tun, unter dem weißen Stoff die Umrisse der Gesichter erkennen kann, wie graue Schatten. Es sind die Köpfe von Schneemännern, aus denen die Kohleaugen und die Karottennasen herausgefallen sind. Die Köpfe schmelzen.
    Aber an einem der Säcke ist Blut, es ist durch den weißen Stoff gesickert, dort, wo der Mund gewesen sein muß. Das Blut formt einen anderen Mund, einen kleinen roten, wie die Münder, die Kinder mit dicken Pinseln im Kindergarten malen. Ein Lächeln, so wie ein Kind es sich vorstellt. Dieses Lächeln aus Blut nimmt am Ende die Aufmerksamkeit gefangen. Nein, diese Männer sind keine Schneemänner.
    Die Männer tragen weiße Kittel, wie sie von Ärzten oder Wissenschaftlern getragen werden. Ärzte und Wissenschaftler sind nicht

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