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Der Report der Magd

Der Report der Magd

Titel: Der Report der Magd Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
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die einzigen, es gibt auch andere, aber heute morgen müssen sie hinter ihnen hergewesen sein. Jedem hängt ein Schild um den Hals, das zeigt, warum er hingerichtet worden ist: die Zeichnung eines menschlichen Fötus. Sie sind also tatsächlich Ärzte gewesen, in der Zeit davor, als dergleichen legal war. Engelmacher wurden sie genannt. Oder war das etwas anderes? Sie sind erst jetzt überführt worden, nach dem Durchforsten von Krankenhausakten oder – was wahrscheinlicher ist, da in den meisten Krankenhäusern solche Akten vernichtet wurden, als sich abzeichnete, was geschehen würde – mit Hilfe von Denunzianten: von einer ehemaligen Krankenschwester vielleicht, oder vielmehr von zweien, da Beweismaterial von einzelnen Frauen nicht mehr zulässig ist, oder von einem anderen Arzt, der so seine eigene Haut zu retten hofft, oder von einem, der selbst bereits angeklagt worden ist und jetzt einem Feind eins auswischen will oder der willkürlich, in der verzweifelten Hoffnung auf Rettung, um sich schlägt. Allerdings werden solche Denunzianten durchaus nicht immer begnadigt.
    Diese Männer, so wurden wir belehrt, sind wie Kriegsverbrecher. Der Umstand, daß das, was sie taten, damals legal war, ist keine Entschuldigung: ihre Taten werden rückwirkend zu Verbrechen erklärt. Sie haben Greueltaten begangen und sollen nun allen anderen als warnendes Beispiel dienen. Obwohl das kaum noch nötig sein dürfte. Keine Frau, die ihre fünf Sinne beisammen hat, würde heutzutage versuchen, ein Kind abzutreiben, wenn sie das Glück haben sollte, schwanger zu werden.
    Wir sollen beim Anblick dieser Leichen Haß und Verachtung empfinden. Beides empfinde ich nicht. Die Männer, die dort an der Mauer hängen, sind Zeitreisende, Anachronismen. Sie kamen aus der vergangenen Zeit.
    Was ich ihnen gegenüber empfinde, ist Leere. Ich spüre, daß ich keine Empfindungen haben darf. Ich empfinde bis zu einem gewissen Grade Erleichterung darüber, daß keiner dieser Männer Luke ist. Luke war kein Arzt. Ist keiner.
     
    Ich betrachte das eine rote Lächeln. Das Rot des Lächelns ist das gleiche Rot wie das der Tulpen in Serena Joys Garten, nach unten zum Stengel hin, wo sie zu verheilen beginnen. Es ist das gleiche Rot, aber es gibt keine Verbindung. Die Tulpen sind keine Tulpen aus Blut, das rote Lächeln ist keine Blume, – es ist nicht so, daß eines das andere erklärte. Die Tulpe ist kein Grund, nicht an den Gehenkten zu glauben – oder umgekehrt. Beides ist konkret und wirklich vorhanden. Und gleichsam durch ein ganzes Feld solcher konkreten Gegenstände muß ich mir meinen Weg suchen, jeden Tag und in jeder Beziehung. Ich verwende viel Mühe darauf, solche Unterscheidungen zu treffen. Ich muß sie treffen. Ich muß in meinen Gedanken sehr klar sein.
     
    Ich spüre ein Beben in der Frau neben mir. Weint sie? Inwiefern könnte das ein gutes Licht auf sie werfen? Ich kann es mir nicht leisten, das zu wissen. Meine Hände sind, wie ich merke, fest um den Henkel meines Korbs geklammert. Ich werde mir nichts anmerken lassen.
    Das Normale, sagte Tante Lydia, ist das, was ihr gewohnt seid. Was ihr jetzt erlebt, mag euch vorläufig noch nicht normal vorkommen, aber nach einiger Zeit wird sich das ändern. Es wird das Normale werden.
     

III
Nacht

Kapitel sieben
    Die Nacht gehört mir, sie ist meine Zeit, mit der ich tun kann, was ich will, solange ich mich still verhalte. Solange ich mich nicht bewege. Solange ich still liege. Der Unterschied zwischen liegen und sich legen lassen, was immer passiv ist. Sogar die Männer sagten früher: Ich würde mich gern aufs Kreuz legen lassen. Der eine oder andere sagte allerdings auch: Ich würde sie gern aufs Kreuz legen. All dies ist reine Spekulation. In Wirklichkeit weiß ich nicht, was die Männer früher sagten. Ich wußte nur ihre Wörter dafür.
    Ich liege also in dem Zimmer, unter dem Gipsauge in der Decke, hinter den weißen Gardinen, zwischen den Laken, sauber und ordentlich wie sie, und trete seitwärts aus meiner Zeit heraus. Zeitlos. Obwohl dies Zeit und diese Zeit mein Los ist.
    Aber die Nacht ist meine Pause. Wohin soll ich gehen?
     
    Irgendwohin, wo es schön ist.
    Moira. Sie saß auf meiner Bettkante, die Beine übergeschlagen, Knöchel auf dem Knie, in ihrer lila Latzhose, mit einem baumelnden Ohrring, dem goldenen Fingernagel, den sie trug, um exzentrisch zu wirken, eine Zigarette zwischen ihren kurzen gelbgefleckten Fingern. Komm, laß uns ein Bier trinken gehen.
    Die Asche

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