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Der Report der Magd

Der Report der Magd

Titel: Der Report der Magd Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
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komisch. Oder Luke fand sie komisch. Ich tat nur so. In Wirklichkeit fand ich sie eher beängstigend. Sie meinte es ernst.
    Jetzt hält sie keine Reden mehr. Sie ist sprachlos geworden. Sie bleibt zu Hause, aber es scheint ihr nicht zu bekommen. Wie wütend sie sein muß, jetzt, wo sie beim Wort genommen worden ist.
    Sie betrachtet die Tulpen. Ihr Stock liegt neben ihr im Gras. Ihr Profil ist mir zugewandt, wie ich mit schnellem Seitenblick sehe, während ich an ihr vorbeigehe. Sie anzustarren, wäre unmöglich. Es ist kein makelloses Scherenschnittprofil mehr, ihr Gesicht sinkt in sich zusammen, ich muß an jene Städte denken, die über unterirdischen Flüssen errichtet sind, und wo über Nacht Häuser und ganze Straßen verschwinden, in Sümpfen, die sich plötzlich auftun, oder an Städte in Kohlerevieren, die in die Flöze unter ihnen stürzen. Etwas Ähnliches muß mit ihr geschehen sein, als sie die wahre Gestalt dessen, was bevorstand, erkannte.
    Sie dreht sich nicht um. Sie reagiert nicht im mindesten auf meine Anwesenheit, obwohl sie weiß, daß ich da bin. Ich merke, daß sie es weiß, ich rieche es förmlich, wie etwas, das sauer geworden ist, wie alte Milch.
    Nicht vor den Männern müßt ihr euch hüten, sagte Tante Lydia, sondern vor den Ehefrauen. Ihr solltet immer versuchen, euch vorzustellen, wie ihnen wohl zumute ist. Selbstverständlich hegen sie Groll gegen euch. Das ist nur natürlich. Versucht, mit ihnen zu fühlen. Tante Lydia glaubte, sie sei ein Vorbild, wenn es um Mitgefühl mit anderen Menschen ging. Versucht, Mitleid mit ihnen zu haben. Vergebt ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun. Wieder dieses bebende Lächeln, das Lächeln einer Bettlerin, das kurzsichtige Zwinkern, der Blick nach oben durch die runde Nickelbrille an die hintere Wand des Klassenzimmers, als teilte sich dort die grüngestrichene Decke und Gott käme auf einer Wolke aus Pink Pearl-Gesichtspuder durch die Elektrokabel und die Rohre der Sprinkleranlage herabgefahren. Ihr müßt euch klar machen, daß sie geschlagene Frauen sind. Sie waren nicht imstande…
    Hier brach ihre Stimme ab, und es entstand eine Pause, in der ich einen Seufzer hörte, einen kollektiven Seufzer von den Frauen um mich herum. Es war nicht angebracht, in diesen Pausen zu rascheln oder auf dem Stuhl herumzurutschen: Tante Lydia mochte zwar geistesabwesend wirken, aber sie sah alles, jedes Zucken. Deshalb gab es nur den Seufzer.
    Die Zukunft liegt in eurer Hand, nahm sie den Faden wieder auf. Sie hielt uns ihre Hände entgegen, die uralte Geste, die beides war, ein Angebot und eine Einladung herzukommen, in eine Umarmung, ein Angenommenwerden. In euren Händen, sagte sie und sah dabei auf ihre eigenen Hände, als hätten sie ihr den Gedanken eingegeben. Aber es lag nichts in ihnen. Sie waren leer. Unsere Hände sollten erfüllt sein – von der Zukunft, die man in sich tragen, aber nicht sehen konnte.
     
    Ich gehe um das Haus herum zur Hintertür, öffne sie, gehe hinein, stelle meinen Korb auf den Küchentisch. Der Tisch ist geschrubbt, das Mehl weggewischt worden. Das heute frisch gebackene Brot kühlt auf dem Gitter ab. In der Küche riecht es nach Hefe, ein Geruch, der wehmütig macht. Er erinnert mich an andere Küchen, die meine Küchen waren. Es riecht nach Müttern – obwohl meine Mutter nie Brot gebacken hat. Es riecht nach mir, in früheren Zeiten, als ich eine Mutter war.
    Es ist ein heimtückischer Geruch, ich darf ihn nicht an mich heranlassen.
    Rita ist da, sie sitzt am Tisch und putzt und schneidet Karotten. Es sind alte Karotten, dicke, die überwintert und von der langen Lagerung Bärte haben. Die jungen Karotten, die zarten, bleichen, werden noch Wochen auf sich warten lassen. Das Messer, das Rita benutzt, ist scharf und glänzend und verlockend. Ich hätte gern so ein Messer.
    Rita hört auf, die Karotten zu schneiden, steht auf und nimmt, fast begierig, die Päckchen aus dem Korb. Sie freut sich darauf, zu sehen, was ich gekauft habe, obwohl sie jedesmal die Stirn runzelt, wenn sie die Päckchen öffnet; nichts, was ich bringe, stellt sie wirklich zufrieden. Sie denkt immer, sie selbst hätte es besser gemacht. Sie würde lieber selbst einkaufen, genau das besorgen, was sie will; sie beneidet mich um den Gang. In diesem Haus beneiden wir alle einander um irgend etwas.
    »Es gibt Orangen«, sage ich. »Bei Milch und Honig. Ein paar sind noch da.« Ich bringe ihr die Idee dar wie eine Opfergabe. Ich möchte mich einschmeicheln.

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