Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Report der Magd

Der Report der Magd

Titel: Der Report der Magd Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
Vom Netzwerk:
das sah, diese von zwei Menschen hinterlassenen Beweisstücke von Liebe oder etwas Ähnlichem, von Begehren zumindest, einer Berührung zumindest zwischen zwei Menschen, die jetzt vielleicht alt oder tot waren, deckte ich das Bett wieder zu und streckte mich darauf aus. Ich schaute auf zu dem blinden Gipsauge an der Zimmerdecke. Ich wollte das Gefühl haben, Luke läge neben mir. Diese Attacken der Vergangenheit, die ich manchmal habe, sind wie ein Schwächeanfall, eine Welle, die über meinen Kopf hinwegstürmt. Manchmal ist es kaum auszuhalten. Was kann man nur tun, was kann man nur tun, dachte ich. Man kann nichts tun. Auch jene dienen, die nur stehen und warten. Oder sich niederlegen und warten. Ich weiß, warum die Scheibe in dem Fenster aus bruchsicherem Glas ist, und warum sie den Kronleuchter abgenommen haben. Ich wollte das Gefühl haben, Luke läge neben mir, aber es war kein Platz.
     
    Ich sparte mir den Schrank bis zum dritten Tag auf. Zuerst sah ich mir aufmerksam die Tür an, von innen und von außen, und dann die Wände mit ihren Messinghaken. Wie haben sie nur die Haken übersehen können? Warum haben sie sie nicht herausgeschraubt? Zu dicht am Boden? Trotzdem, ein Strumpf, das ist alles, was du brauchst. Und die Stange mit den Plastikbügeln, auf denen meine Kleider hängen, das rote Wollcape für kaltes Wetter, das Umschlagtuch. Ich kniete mich hin, um den Schrankboden zu untersuchen, und da war es, in winziger Schrift, ziemlich frisch, wie es schien, eingekratzt mit einer Nadel, vielleicht nur mit dem Fingernagel, in der Ecke, in die der dunkelste Schatten fiel: Hirundo maleficis evoltat.
    Ich wußte nicht, was es bedeutete, nicht einmal welche Sprache es war. Ich glaubte, daß es Latein sei, aber ich konnte kein Latein. Doch es war eine Botschaft, noch dazu eine schriftliche, und allein schon deshalb verboten, und sie war noch nicht entdeckt worden. Außer von mir, für die sie bestimmt war. Sie war für diejenige bestimmt, die als nächste kam, wer immer sie war.
    Es gefällt mir, über diese Botschaft nachzugrübeln. Es gefällt mir zu glauben, daß ich mit ihr, mit dieser mir unbekannten Frau kommuniziere. Denn sie ist mir unbekannt, und wenn sie mir bekannt wäre, so ist sie mir gegenüber doch niemals erwähnt worden. Es gefällt mir, zu wissen, daß ihre verbotene Botschaft durchgekommen ist, zumindest zu einem weiteren Menschen, an die Wand meines Schranks gespült und von mir gelesen. Manchmal sage ich mir die Worte vor. Sie schenken mir eine kleine Befriedigung. Wenn ich mir die Frau vorstelle, die sie geschrieben hat, dann stelle ich sie mir etwa in meinem Alter vor, vielleicht ein wenig jünger. Ich verwandle sie in Moira, Moira, wie sie war, als sie das College besuchte, im Zimmer neben meinem: quirlig, flott, sportlich, mit Fahrrad früher und einem Rucksack zum Wandern. Sommersprossen, glaube ich; respektlos, erfinderisch.
    Wer sie wohl war oder ist, und was mag aus ihr geworden sein?
    Ich habe es mit Rita ausprobiert, an dem Tag, als ich die Botschaft fand.
    Wer war die Frau, die vor mir in dem Zimmer gewohnt hat? fragte ich. Vor mir? Wenn ich anders gefragt hätte, wenn ich gefragt hätte: Hat vor mir schon eine Frau in dem Zimmer gewohnt? hätte ich vielleicht gar nichts erfahren.
    Welche? fragte sie, und es klang mürrisch, mißtrauisch, aber andererseits klingt es fast immer so, wenn sie mit mir spricht.
    Also hat es mehr als nur eine gegeben. Einige sind nicht ihre volle Stationierungszeit, ihre vollen zwei Jahre, dageblieben. Manche sind weggeschickt worden, aus diesem oder jenem Grund. Oder vielleicht nicht weggeschickt? Vielleicht weggegangen?
    Die Lebhafte. Ich riet auf gut Glück. Die mit den Sommersprossen.
    Hast du sie gekannt? fragte Rita, mißtrauischer als je zuvor.
    Ich kannte sie früher, log ich. Ich hörte, daß sie hier war.
    Das akzeptierte Rita. Sie weiß, daß es ein Nachrichtensystem geben muß, eine Art Untergrund.
    Sie hat nicht funktioniert, sagte sie.
    In welcher Hinsicht? fragte ich und gab mir Mühe, daß meine Stimme so gleichmütig wie möglich klang.
    Aber Rita preßte die Lippen aufeinander. Ich bin hier wie ein Kind, es gibt einige Dinge, die man mir nicht sagen darf. Was du nicht weißt, macht dich nicht heiß, war alles, was sie in solchen Fällen sagte.
     

Kapitel zehn
    Manchmal singe ich mir selbst etwas vor, in Gedanken, etwas Kummervolles, Trauriges, Presbyterianisches:
    Wie lieblich schön, Herr Zebaoth
    Ist deine Wohnung, o mein

Weitere Kostenlose Bücher