Der Report der Magd
Geschichte erzähle. Ich habe das Bedürfnis, es zu glauben. Ich muß es glauben. Diejenigen, die glauben können, daß solche Geschichten nur Geschichten sind, haben bessere Chancen.
Wenn das, was ich erzähle, nur eine ausgedachte Geschichte ist, dann habe ich das Ende in der Hand. Dann wird es ein Ende geben, ein Ende der Geschichte, und danach wird das wahre Leben kommen. Ich kann da weitermachen, wo ich aufgehört habe.
Was ich erzähle, ist keine Geschichte.
Was ich erzähle, ist auch eine Geschichte, in meinem Kopf, während ich weitermache.
Erzähle, nicht schreibe, denn ich habe nichts, womit ich schreiben könnte, und Schreiben ist ohnehin verboten. Aber wenn es eine Geschichte ist, und sei sie auch nur in meinem Kopf, muß ich sie jemandem erzählen. Man erzählt eine Geschichte nicht nur sich selbst. Es gibt immer irgendeinen anderen Menschen.
Auch wenn niemand da ist.
Eine Geschichte ist wie ein Brief. Liebes, Du, werde ich sagen. Einfach nur Du, ohne Namen. Einen Namen mit Dir zu verbinden, verbindet Dich mit der Welt der Tatsachen, die riskanter, gefährlicher ist: Wer weiß, wie da draußen die Überlebenschancen sind, für dich. Ich werde sagen: Du, Du, Du wie in einem alten Liebeslied. Du kann mehr als nur einen Menschen meinen.
Du kann tausend einzelne Menschen meinen.
Ich bin in keiner unmittelbaren Gefahr, werde ich zu dir sagen.
Ich werde so tun, als könntest du mich hören.
Aber das hilft nichts, denn ich weiß, daß du es nicht kannst.
IV
Wartezimmer
Kapitel acht
Das schöne Wetter hält an. Es ist fast wie im Juni, wenn wir unsere Sommerkleider und unsere Sandalen herausholten und Eis essen gingen. Drei neue Leichen hängen an der Mauer. Einer der Toten ist ein Priester, er hat noch die schwarze Soutane an. Man hat sie ihm für den Prozeß angezogen, obwohl die Priester doch schon vor Jahren, als die Sektenkriege anfingen, aufgehört haben, sie zu tragen: in ihren Soutanen fielen sie zu sehr auf. Die beiden anderen haben purpurrote Schilder um den Hals: Geschlechtsverrat. Ihre Leichen sind noch mit der Uniform der Wächter bekleidet. Zusammen ertappt, so muß es gewesen sein. Aber wo? In einer Kaserne? Unter der Dusche? Schwer zu sagen. Der Schneemann mit dem roten Lächeln ist nicht mehr da.
»Wir sollten zurückgehen«, sage ich zu Desglen. Immer bin ich diejenige, die es sagt. Manchmal habe ich das Gefühl, wenn ich es nicht sagte, würde sie ewig hierbleiben. Trauert sie nun, oder weidet sie sich an dem Anblick? Ich weiß es immer noch nicht.
Wortlos dreht sie sich um, wie eine stimmengesteuerte Puppe, als stünde sie auf kleinen geölten Rädern, als stünde sie auf einer Spieldose. Ich ärgere mich über diese Anmut. Ich ärgere mich über ihre demütige Kopfhaltung – sie geht, den Kopf geneigt, wie bei heftigem Wind. Aber es weht kein Wind.
Wir verlassen die Mauer, wir gehen den Weg zurück, den wir gekommen sind, in der warmen Sonne.
»Was für ein schöner Maitag«, sagt Desglen. Ich spüre mehr, als daß ich sehe, wie ihr Kopf sich mir zuwendet, wie sie eine Antwort erwartet.
»Ja«, sage ich. »Lob sei dem Herrn«, füge ich dann hinzu.
Mayday, das war früher einmal ein Notsignal, vor langer Zeit, in einem der Kriege, die wir in der High School auswendig lernen mußten. Ich brachte sie immer durcheinander, aber man konnte sie an den Flugzeugen unterscheiden, wenn man genau aufpaßte. Die Sache mit Mayday hat allerdings Luke mir erzählt. Mayday, Mayday, für Piloten, deren Flugzeuge getroffen worden waren, und für Schiffe – war es auch für Schiffe? – auf hoher See. Vielleicht hieß es bei den Schiffen SOS. Ich wünschte, ich könnte es nachschlagen. Und es war etwas von Beethoven, zum Anfang des Sieges, in einem dieser Kriege.
Weißt du auch, woher das kam? sagte Luke. Mayday?
Nein, sagte ich. Es ist ein merkwürdiges Wort für diesen Zweck, nicht?
Zeitungen und Kaffee sonntagmorgens, bevor sie geboren wurde. Damals gab es noch Zeitungen. Wir lasen sie oft im Bett.
Es ist französisch, sagte er. Von m'aidez.
Helft mir.
Eine kleine Prozession kommt auf uns zu, ein Trauerzug: drei Frauen, alle mit durchsichtigen schwarzen Schleiern über ihrer Haube. Eine Ökonofrau und zwei andere, zwei Trauernde – auch Ökonofrauen, vielleicht ihre Freundinnen. Ihre gestreiften Kleider sehen abgenutzt aus, und ihre Gesichter ebenso. Eines Tages, wenn die Zeiten sich bessern, sagt Tante Lydia, wird niemand mehr Ökonofrau sein müssen.
Die erste ist
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