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Der Report der Magd

Der Report der Magd

Titel: Der Report der Magd Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
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ausatmen. Janine versucht, mit geschlossenen Augen ihren Atem zu verlangsamen. Tante Elizabeth fühlt die Wehen.
    Jetzt wird Janine unruhig, sie möchte herumgehen. Die beiden Frauen helfen ihr vom Bett, stützen sie an beiden Seiten, während sie auf und ab geht. Eine Wehe überfällt sie, sie krümmt sich. Eine der Frauen kniet sich hin und massiert ihr den Rücken. Wir alle können das, wir haben es gelernt. Ich erkenne Desglen, meine Einkaufspartnerin, sie sitzt zwei Plätze von mir entfernt. Der leise Singsang hüllt uns ein wie eine Membran.
    Eine Martha kommt herein mit einem Tablett: ein Krug mit Fruchtsaft, von der Sorte, die man aus Pulver anrührt, Traubensaft anscheinend, und ein Stapel Pappbecher. Sie setzt das Tablett vor den singenden Frauen auf dem Teppich ab. Desglen gießt ein, ohne einen Takt auszulassen, und die Pappbecher wandern die Reihe hinunter.
    Ich bekomme einen Becher, beuge mich zur Seite, um ihn weiterzugeben, und die Frau neben mir sagt, leise, mir ins Ohr: »Suchst du jemand?«
    »Moira«, sage ich genauso leise. »Dunkles Haar, Sommersprossen.«
    »Nein«, sagt die Frau. Ich kenne diese Frau nicht, sie war nicht mit mir im Zentrum, aber ich habe sie schon beim Einkaufen gesehen. »Ich passe auf.«
    »Wer bist du?« frage ich.
    »Alma«, sagt sie. »Wie ist dein richtiger Name?«
    Ich würde ihr gern erzählen, daß eine Alma mit mir im Zentrum war. Ich würde ihr gern meinen Namen sagen, aber Tante Elizabeth hebt den Kopf, schaut im Zimmer umher, sie muß eine Unterbrechung im Singsang gehört haben, deshalb ist jetzt keine Zeit mehr dafür. Manchmal kann man an Geburts-Tagen etwas herausfinden. Freilich würde es nichts bringen, nach Luke zu fragen. Er ist bestimmt nirgendwo, wo auch nur eine dieser Frauen ihn möglicherweise sehen könnte.
    Der Singsang geht weiter, ich werde langsam in seinen Rhythmus gezogen. Es ist eine schwere Arbeit, und man soll sich ganz darauf konzentrieren. Identifiziert euch mit eurem Körper, hat Tante Elizabeth gesagt. Ich spüre schon einen leichten Schmerz in meinem Bauch, und meine Brüste sind schwer. Janine schreit, es ist ein Mittelding zwischen Schreien und Stöhnen.
    »Sie kommt in die Austreibungsphase«, sagt Tante Elizabeth.
    Eine der Helferinnen wischt mit einem feuchten Tuch über Janines Stirn. Janine schwitzt jetzt, ihr Haar rutscht in Strähnen unter dem elastischen Band hervor, etwas davon klebt auf ihrer Stirn und im Nacken. Ihr Körper ist heiß, feucht, naß, er glänzt.
    »Hecheln, hecheln, hecheln!« singen wir.
    »Ich möchte nach draußen«, sagt Janine. »Ich möchte Spazierengehen. Mir geht es gut. Ich muß aufs Klo.«
    Wir wissen alle, daß sie jetzt in der Austreibungsphase ist, sie weiß nicht, was sie tut. Welche ihrer Aussagen stimmt? Wahrscheinlich die letzte. Tante Elizabeth gibt ein Zeichen, zwei Frauen stellen sich neben den tragbaren Toilettenstuhl, Janine wird sacht hinuntergelassen. Noch ein weiterer Geruch mischt sich unter die Gerüche im Zimmer. Janine stöhnt wieder, ihr Kopf ist vornübergeneigt, so daß wir nur ihr Haar sehen können. Zusammengekauert, wie sie da hockt, wirkt sie wie eine Puppe, eine alte Puppe, die ausgezogen und weggeworfen worden ist, in eine Ecke, die Arme in die Seite gestemmt.
    Janine ist wieder auf den Beinen und geht umher. »Ich möchte mich setzen«, sagt sie. Wie lange sind wir schon hier? Minuten oder Stunden? Ich schwitze jetzt, mein Kleid ist unter den Armen schweißnaß, ich schmecke Salz auf der Oberlippe, die falschen Schmerzen zerren an mir, die anderen spüren sie auch, ich sehe es daran, wie sie schwanken. Janine lutscht einen Eiswürfel. Dann, danach, Zentimeter entfernt oder Meilen, schreit sie: »Nein! O nein, o nein, o nein!« Es ist ihr zweites Kind, sie hat früher schon einmal ein Kind gehabt, das weiß ich aus der Zeit im Zentrum, wo sie nachts um ihr Kind geweint hat, wie wir anderen auch, nur lauter. Dann müßte sie sich doch daran erinnern können, wie es ist und wie es weitergeht. Aber wer kann sich an Schmerzen erinnern, wenn sie vorbei sind? Alles, was davon bleibt, ist ein Schatten, und nicht einmal in der Erinnerung, sondern im Körper. Der Schmerz zeichnet dich, aber zu tief, als daß du es sehen könntest. Aus den Augen aus dem Sinn.
    Jemand hat einen Schuß Alkohol in den Traubensaft gegossen. Jemand hat unten eine Flasche geklaut. Das wäre nicht das erste Mal bei solch einer Versammlung. Aber sie werden ein Auge zudrücken. Auch wir brauchen unsere

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