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Der Report der Magd

Der Report der Magd

Titel: Der Report der Magd Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
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sie nicht vollkommen? Oh, sie ist wunderschön!«
    Wir stehen zwischen Janine und dem Bett, damit sie dies nicht mitansehen muß. Jemand gibt ihr ein Glas Traubensaft, ich hoffe, es ist Alkohol darin, sie hat immer noch Schmerzen, wegen der Nachgeburt, sie weint, hilflos, ausgebrannt, bittere Tränen. Trotzdem sind wir überglücklich, es ist ein Sieg für uns alle. Wir haben es geschafft.
    Sie wird das Baby stillen dürfen, ein paar Monate lang, man hält hier viel von Muttermilch. Danach wird sie versetzt werden, und man wird sehen, ob sie es noch einmal schafft, mit einem anderen, der dann an der Reihe ist. Aber sie wird niemals in die Kolonien geschickt werden, sie wird niemals zur Unfrau erklärt werden. Das ist ihr Lohn.
    Das Geburtsmobil wartet draußen, um uns zu unseren Haushalten zurückzubringen. Die Ärzte sitzen immer noch in ihrem Wagen; ihre Gesichter tauchen am Fenster auf, weiße formlose Kleckse, wie die Gesichter kranker Kinder, die ans Haus gefesselt sind. Einer von ihnen öffnet die Tür und kommt auf uns zu.
    »Alles gut gegangen?« fragt er besorgt.
    »Ja«, sage ich. Ich bin jetzt wie ausgewrungen, erschöpft. Meine Brüste schmerzen, sie feuchten ein wenig. Scheinmilch – das tritt bei manchen von uns auf. Wir sitzen auf unseren Bänken, einander gegenüber, während wir befördert werden. Wir sind jetzt stumpf, fast gefühllos, wir könnten Bündel aus rotem Stoff sein. Uns tut alles weh. Jede von uns hält ein Phantom in ihrem Schoß, ein Geisterbaby. Jetzt, nachdem die Aufregung vorüber ist, sehen wir uns unserem eigenen Versagen gegenüber. Mutter, denke ich. Wo immer du sein magst. Hörst du mich? Du wolltest eine Frauenkultur. Nun, hier ist eine. Nicht das, was du gemeint hast. Aber sie existiert. Seid dankbar für die kleinen Gnaden.
     

Kapitel zweiundzwanzig
    Als das Geburtsmobil vor dem Haus ankommt, ist es später Nachmittag. Die Sonne dringt schwach durch die Wolken, der Geruch sich erwärmenden nassen Grases hängt in der Luft. Ich bin den ganzen Tag bei der Geburt gewesen; man verliert dabei das Zeitgefühl. Cora wird heute die Einkäufe gemacht haben, ich bin von allen Aufgaben befreit. Ich gehe die Treppe hinauf, schleppe mich mit schweren Füßen von einer Stufe zur anderen, ziehe mich am Geländer hinauf. Ich fühle mich, als wäre ich tagelang wach gewesen und heftig gerannt, meine Lunge tut mir weh. Meine Muskeln krampfen, als fehlte ihnen Traubenzucker. Ausnahmsweise preise ich die Einsamkeit.
    Ich liege auf dem Bett. Ich möchte mich gern ausruhen, einschlafen, aber ich bin zu müde und gleichzeitig zu erregt, meine Augen wollen sich nicht schließen. Ich schaue an die Decke, folge dem Blattwerk des Kranzes. Heute erinnert es mich an einen Hut, an die breitkrempigen Hüte, die manche Frauen in einer bestimmten Phase der alten Zeiten trugen: Hüte wie riesige Heiligenscheine, mit Früchten und Blumen geschmückt oder mit den Federn exotischer Vögel; Hüte wie im Paradies, über dem Kopf schwebend, ein Materie gewordener Gedanke.
    In wenigen Sekunden wird der Kranz sich verfärben, und ich werde anfangen, Dinge zu sehen. So müde bin ich: wie wenn man die ganze Nacht durchgefahren ist, in die Morgendämmerung hinein, aus irgendeinem Grund, über den ich jetzt nicht nachdenken will, und sich gegenseitig mit Geschichten wachgehalten und sich am Steuer abgewechselt hat. Wenn dann die Sonne langsam aufging, sah man Dinge in den Augenwinkeln: lila Tiere in den Büschen neben der Straße, die vagen Umrisse von Menschen, die verschwanden, wenn man sie direkt ansah.
    Ich bin zu müde, um diese Geschichte weiter zu erzählen. Ich bin zu müde, um darüber nachzudenken, wo ich bin. Hier ist eine andere Geschichte, eine bessere. Ich erzähle jetzt, was Moira zugestoßen ist.
    Einen Teil kann ich selbst beisteuern, einen Teil habe ich von Alma erfahren, die das, was sie wußte, von Dolores erfuhr, die es ihrerseits von Janine erfuhr. Janine hat es von Tante Lydia erfahren. Sogar an solchen Orten kann es Bündnisse geben, sogar unter solchen Umständen. Darauf kann man sich verlassen: es wird immer Bündnisse geben. Von der einen oder von der anderen Art.
    Tante Lydia rief Janine in ihr Büro.
    Gesegnet sei die Frucht, Janine, hatte Tante Lydia vermutlich gesagt, ohne von ihrem Schreibtisch aufzublicken, wo sie gerade etwas schrieb. Jede Regel hat ihre Ausnahme, auch darauf kann man sich verlassen: Die Tanten dürfen lesen und schreiben.
    Möge der Herr uns öffnen, wird Janine

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