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Der Report der Magd

Der Report der Magd

Titel: Der Report der Magd Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
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vermutlich geantwortet haben, tonlos, mit ihrer durchsichtigen Stimme, einer Stimme wie klares Eiweiß.
    Ich habe das Gefühl, daß ich mich auf dich verlassen kann, Janine, sagte Tante Lydia und hob dabei endlich die Augen von dem Blatt Papier und fixierte Janine mit dem ihr eigenen Blick durch die Brille, einem Blick, der es schaffte, sowohl drohend als auch flehentlich zu sein, beides zur gleichen Zeit. Hilf mir, sagte dieser Blick, wir sitzen alle im gleichen Boot. Du bist ein zuverlässiges Mädchen, fuhr sie fort, nicht so wie manche von den anderen.
    Sie glaubte, Janines ewiges Gejammer und ihr reuiges Getue bedeute etwas, sie glaubte, Janine sei gebrochen, sie glaubte, Janine sei eine wahre Gläubige. Aber damals war Janine schon wie ein junger Hund, der zu oft getreten worden ist, von zu vielen Menschen, willkürlich: sie war bereit, für jeden zur Seite zu rücken, bereit, alles zu erzählen, nur um eines Augenblicks der Zustimmung willen.
    Janine dürfte also gesagt haben: Das hoffe ich, Tante Lydia. Ich hoffe, daß ich Ihres Vertrauens wert geworden bin. Oder so ähnlich.
    Janine, sagte Tante Lydia, etwas Schreckliches ist geschehen.
    Janine schaute zu Boden. Was es auch war, sie wußte, daß ihr nicht die Schuld daran zugeschrieben werden würde, sie war untadelig. Doch was hatte ihr das in der Vergangenheit genützt, untadelig zu sein? So kam es, daß sie sich gleichzeitig schuldig fühlte und so, als würde sie gleich bestraft werden.
    Weißt du etwas davon, Janine? fragte Tante Lydia mit sanfter Stimme.
    Nein, Tante Lydia, sagte Janine. Sie wußte, daß es notwendig war, in diesem Augenblick aufzuschauen, Tante Lydia direkt in die Augen zu schauen. Und es gelang ihr fast auf Anhieb.
    Denn falls du etwas davon weißt, werde ich sehr enttäuscht von dir sein, sagte Tante Lydia.
    Der Herr ist mein Zeuge, sagte Janine mit einem Anflug von Inbrunst.
    Tante Lydia gestattete sich eine ihrer Pausen. Sie spielte mit ihrem Schreiber. Moira ist nicht mehr bei uns, sagte sie schließlich.
    Oh, sagte Janine. Ihr war das gleichgültig. Moira gehörte nicht zu ihren Freundinnen. Ist sie tot? fragte sie einen Augenblick später.
    Da erzählte Tante Lydia ihr die Geschichte. Moira hatte während der Gymnastikstunde die Hand gehoben, um zur Toilette gehen zu dürfen. Sie war gegangen. Tante Elizabeth hatte Toilettendienst. Tante Elizabeth blieb draußen vor der Toilettentür stehen, wie gewöhnlich. Moira ging hinein. Einen Augenblick später rief Moira nach Tante Elizabeth: die Toilette sei verstopft und laufe über und ob Tante Elizabeth kommen und es in Ordnung bringen könne. Es stimmte, daß die Toiletten manchmal überliefen. Unbekannte Personen stopften ganze Bündel von Toilettenpapier hinein, um eben dies zu bewirken. Die Tanten hatten sich schon mit der Entwicklung einer narrensicheren Methode, dies zu verhindern, beschäftigt, aber die Geldmittel waren beschränkt, und vorerst mußten sie sich mit dem begnügen, was zur Verfügung stand, und sie hatten noch keine Idee gehabt, wie man das Toilettenpapier unter Verschluß halten konnte. Vielleicht sollten sie es draußen vor der Tür auf einem Tisch aufbewahren und jeder, die hineinging, ein oder mehrere Blatt aushändigen. Aber das war noch Zukunftsmusik. Es braucht immer eine Weile, bis man alles bedacht hat, wenn etwas neu ist.
    Tante Elizabeth, die nichts Böses ahnte, ging in die Toilette. Tante Lydia mußte zugeben, daß das ein bißchen dumm von ihr gewesen war. Andererseits war sie bereits bei mehreren früheren Gelegenheiten hineingegangen und hatte Toiletten in Ordnung gebracht, ohne daß etwas passiert war.
    Moira hatte nicht gelogen, tatsächlich lief Wasser über den Fußboden, und Brocken von sich auflösenden Fäkalien schwammen darin. Es war nicht sehr angenehm, und Tante Elizabeth war ärgerlich. Moira trat höflich zur Seite, und Tante Elizabeth eilte in die Kabine, auf die Moira gezeigt hatte, und beugte sich über die Spülanlage. Sie hatte vor, den Porzellandeckel zu heben und das Arrangement von Stopfen und Gewicht in Ordnung zu bringen. Sie hatte beide Hände an dem Deckel, als sie etwas Hartes, Scharfes, möglicherweise Metallisches hinten zwischen ihren Rippen fühlte. Keine Bewegung, sagte Moira, oder ich steche tiefer. Ich weiß genau wo, ich steche die Lunge an.
    Später fand man heraus, daß sie das Innere eines Spülkastens auseinandergenommen und den langen dünnen spitzen Hebel, das Teil, das am einen Ende am Griff, und am

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