Der Report der Magd
würde eine Tante solchermaßen beleidigen? Und entschwand.
Oh, sagte Janine. Aber wer weiß, was sie dabei empfand? Vielleicht hätte sie am liebsten Beifall geklatscht. Falls ja, so hütete sie sich, es zu zeigen.
So, Janine, sagte Tante Lydia. Ich möchte nun, daß du folgendes tust.
Janine riß die Augen weit auf und versuchte, unschuldig und aufmerksam auszusehen.
Ich möchte, daß du die Augen offen hältst. Vielleicht war eine der anderen mit im Spiel.
Ja, Tante Lydia, sagte Janine.
Und komm und erzähl es mir, ja, mein Liebes? Falls du etwas hörst.
Ja, Tante Lydia, sagte Janine. Sie wußte, sie würde nun nicht mehr vor der Klasse niederknien und sich anhören müssen, wie wir alle schrien, daß es ihre Schuld gewesen sei. Jetzt würde es eine Weile lang jemand anders sein. Sie war, für den Augenblick, aus dem Schneider.
Die Tatsache, daß sie Dolores alles über die Begegnung in Tante Lydias Büro erzählte, hatte nichts zu bedeuten. Es bedeutete nicht, daß sie gegen uns aussagen würde, gegen jede von uns, falls sie Gelegenheit dazu hatte. Das wußten wir. Inzwischen behandelten wir sie so, wie die Leute früher beinlose Krüppel behandelten, die an Straßenecken Bleistifte verkauften. Wir mieden sie, wo wir konnten, zeigten uns ihr gegenüber mildtätig, wo es nicht anders ging. Sie war eine Gefahr für uns, das war uns klar.
Dolores klopfte ihr wahrscheinlich auf den Rücken und sagte, es sei ein feiner Zug von ihr, daß sie uns alles erzählt habe. Wo fand dieser Austausch statt? In der Turnhalle, wenn wir uns zum Schlafen fertig machten. Dolores hatte das Bett neben Janine.
Die Geschichte machte bei uns noch in der gleichen Nacht die Runde, im Halbdunkel, geflüstert, von Bett zu Bett.
Moira war irgendwo dort draußen. Sie war frei oder tot. Was würde sie tun? Die Überlegungen, was sie tun würde, wucherten, bis sie den ganzen Raum ausfüllten. Jeden Moment konnte es eine vernichtende Explosion geben, das Fensterglas würde nach innen fallen, die Türen würden auffliegen … Moira hatte jetzt Macht, sie war freigelassen, sie hatte sich selbst freigelassen. Sie war jetzt frei und los, ein loses Mädchen.
Ich glaube, wir fanden das erschreckend.
Moira war wie ein Fahrstuhl mit offenen Seitenwänden. Sie machte uns schwindeln. Schon verloren wir den Geschmack an der Freiheit, schon empfanden wir die Wände um uns herum als Schutz. In den höheren Bereichen der Atmosphäre würde man auseinanderfallen, sich in Luft auflösen, dort gäbe es keinen Druck mehr, der einen zusammenhielt.
Trotzdem war Moira unser Traum. Wir drückten sie an uns, sie war heimlich bei uns, ein Kichern; sie war Lava unter der Kruste des täglichen Lebens. Im Lichte von Moira waren die Tanten weniger furchterregend und eher absurd. Ihre Macht hatte schwache Stellen. Sie ließen sich in Toiletten unter Druck setzen. Die Kühnheit gefiel uns.
Wir erwarteten, daß man sie jeden Moment hereinschleppen würde, so wie das Mal zuvor. Wir konnten uns nicht vorstellen, was sie diesmal mit ihr machen würden. Es würde sehr schlimm sein, was immer es war.
Aber es geschah nichts. Moira erschien nicht wieder. Sie ist noch immer nicht wieder da.
Kapitel dreiundzwanzig
Dies ist eine Rekonstruktion. Alles ist Rekonstruktion. Es ist jetzt eine Rekonstruktion, in meinem Kopf, während ich flach auf meinem Einzelbett ausgestreckt liege und durchspiele, was ich hätte sagen oder nicht sagen sollen, was ich hätte tun oder nicht tun sollen, wie ich es hätte deichseln sollen. Falls ich jemals hier herauskomme …
Hier wollen wir lieber aufhören. Ich habe fest vor, hier herauszukommen. Es kann nicht ewig dauern. Andere Menschen haben auch schon so gedacht, in schlimmen Zeiten vor diesen, und sie hatten immer recht, sie sind auf die eine oder andere Weise herausgekommen, und es hat nicht ewig gedauert. Auch wenn es für sie die ganze Ewigkeit, die ihnen beschieden war, gedauert haben mag.
Wenn ich hier herauskomme, falls ich je in der Lage sein werde, dies in irgendeiner Form festzuhalten, und sei es in Form einer Stimme, die zu einer anderen spricht – auch dann wird es eine Rekonstruktion sein, noch um einen Grad ferner. Es ist unmöglich, etwas genau so zu sagen, wie es war, denn was man sagt, kann niemals genau sein, man muß immer etwas auslassen, es gibt zu viele Teile, Seiten, Gegenströmungen, Nuancen, zu viele Gesten, die dies oder jenes bedeuten könnten, zu viele Formen, die man niemals vollständig beschreiben
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