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Der Report der Magd

Der Report der Magd

Titel: Der Report der Magd Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
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Puppe. Wahrscheinlich sehnte sie sich danach, mir ins Gesicht zu schlagen. Sie dürfen uns schlagen, es gibt Präzedenzfälle in der Schrift. Aber nicht mit irgendwelchen Gegenständen. Nur mit der Hand.
    Das ist eine der Errungenschaften, für die wir gekämpft haben, sagte die Frau des Kommandanten, und plötzlich schaute sie nicht mehr mich an, sie schaute hinunter auf ihre Knöchel, ihre mit Diamanten besetzten Finger, und ich wußte, wo ich sie schon einmal gesehen hatte.
    Das erste Mal hatte ich sie im Fernsehen gesehen, als ich acht oder neun war. Das war die Zeit, als meine Mutter am Sonntagmorgen länger schlief und ich oft früh aufstand und zum Fernsehapparat in ihrem Arbeitszimmer hinüberging und auf der Suche nach Zeichentrickfilmen alle Kanäle durchprobierte. Manchmal, wenn ich nichts fand, sah ich mir die »Andachtsstunde für heranwachsende Seelen« an, in der für Kinder biblische Geschichten erzählt und Choräle gesungen wurden. Eine der Frauen hieß Serena Joy. Sie war der erste Sopran. Sie war aschblond, zierlich, mit Stupsnase und riesigen blauen Augen, die sie bei den Chorälen gen Himmel wandte. Sie konnte zur gleichen Zeit lächeln und weinen, ein oder zwei Tränen kullerten ihr anmutig die Wange hinunter, wie auf Kommando, während ihre Stimme sich zu den höchsten Tönen emporschwang, tremulierend, mühelos. Später hatte sie sich dann anderen Dingen zugewandt.
    Die Frau, die vor mir saß, war Serena Joy. Oder war es einmal gewesen. Also war es noch schlimmer, als ich gedacht hatte.
     

Kapitel vier
    Ich gehe den Kiesweg hinunter, der den Rasen hinter dem Haus wie ein säuberlich gezogener Scheitel teilt. In der Nacht hat es geregnet; das Gras zu beiden Seiten ist naß, die Luft feucht. Hier und da liegen Würmer, Beweise für die Fruchtbarkeit des Bodens, von der Sonne überrascht, halb tot; beweglich und rosa, wie Lippen.
    Ich öffne die weiße Lattentür und gehe weiter, am vorderen Rasen entlang und auf das vordere Gartentor zu. In der Einfahrt wäscht einer der Wächter, die unserem Haushalt zugeteilt sind, den Wagen. Das muß bedeuten, daß der Kommandant im Haus ist, in seinen Räumen hinter dem Eßzimmer, wo er sich meistens aufzuhalten scheint.
    Es ist ein sehr teurer Wagen, ein Whirlwind; besser als der Chariot, und sehr viel besser als der praktische, aber klobige Behemoth. Natürlich ist er schwarz – die Prestigefarbe und die Farbe der Leichenwagen – und lang und glänzend. Der Fahrer reibt liebevoll mit einem Poliertuch darüber. Zumindest dies hat sich nicht verändert, die Zärtlichkeit, mit der Männer teure Autos liebkosen.
    Er trägt die Uniform der Wächter, aber seine Mütze sitzt in einem flotten Winkel auf dem Kopf, und seine Ärmel sind bis zu den Ellbogen aufgerollt, so daß man seine Unterarme sieht, braungebrannt, und mit Tupfen dunkler Härchen. Eine Zigarette hängt ihm im Mundwinkel, was zeigt, daß auch er etwas hat, womit er auf dem Schwarzen Markt handeln kann.
    Ich weiß, wie der Mann heißt: Nick. Ich weiß es, weil ich gehört habe, wie Rita und Cora über ihn sprachen, und einmal habe ich gehört, wie der Kommandant zu ihm sagte: Nick, ich brauche das Auto nicht.
    Er wohnt hier, auf dem Grundstück, über der Garage. Niedriger Status: ihm ist keine Frau zugeteilt worden, nicht einmal eine. Er gilt nichts: irgendein Makel, ein Mangel an Verbindungen. Aber er verhält sich so, als wüßte er das nicht oder als kümmerte es ihn nicht. Er ist zu lässig, er ist nicht unterwürfig genug. Es mag Dummheit sein, aber das glaube ich nicht. Stinkt nach Fisch, sagte man früher. Oder: Ich rieche eine Ratte. Außenseitertum als Geruch. Ohne es zu wollen, überlege ich, wie er wohl riecht. Nicht nach Fisch oder verwesender Ratte: nach sonnengebräunter Haut, feucht in der Sonne, eingehüllt von Rauch. Ich seufze und atme tief ein.
    Er schaut mich an und sieht, wie ich zu ihm hinüberschaue. Er hat ein französisches Gesicht, mager, drollig, nur Flächen und Winkel, mit Falten um den Mund, wo er lächelt. Er zieht ein letztes Mal an der Zigarette, läßt sie auf den Weg fallen und tritt darauf. Er beginnt zu pfeifen. Dann zwinkert er.
    Ich senke den Kopf, wende mich ab, so daß die weißen Flügel mein Gesicht verdecken, und gehe weiter. Er ist soeben ein Risiko eingegangen, aber wofür? Was, wenn ich ihn anzeigen würde?
    Vielleicht wollte er einfach nur nett sein. Vielleicht hat er meinen Gesichtsausdruck gesehen und ihn irrtümlich für etwas anderes

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