Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Report der Magd

Der Report der Magd

Titel: Der Report der Magd Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
Vom Netzwerk:
ich sieben beisammenhabe. Aber was nützte es, ich verbüße keine Gefängnisstrafe, und es gibt hier keine Zeit, die ich absitzen könnte und dann hinter mir hätte. Außerdem brauche ich nur zu fragen, wenn ich wissen will, welcher Tag es ist. Gestern war der vierte Juli, früher der Unabhängigkeitstag, bevor sie ihn abgeschafft haben. Der erste September wird der Tag der Arbeit sein, den haben sie beibehalten. Obwohl er mit Müttern nie das geringste zu tun gehabt hat.
    Aber ich verfolge die Zeit mit Hilfe des Monds. Lunarzeit, nicht Solarzeit.
     
    Ich bücke mich, um meine roten Schuhe zu schließen; leichtere in dieser Zeit, mit diskret geschnittenen Schlitzen, doch nicht im entferntesten so gewagt wie Sandalen. Es strengt an, sich zu bücken; trotz der Gymnastikübungen spüre ich, wie mein Körper sich allmählich versteift, sich verweigert. Da ich eine Frau bin, habe ich mir so immer das Altsein vorgestellt. Ich merke, daß ich sogar so gehe: vornübergebeugt, die Wirbelsäule zu einem Fragezeichen verkrümmt, die Knochen ausgelaugt, ohne Kalzium, und porös wie Kalkstein. Wenn ich mir, als ich jünger war, das Alter vorstellte, dachte ich immer: Vielleicht lerne ich die Dinge mehr schätzen, wenn mir nicht mehr viel Zeit bleibt. Ich vergaß, den Verlust an Energie zu bedenken. Es gibt Tage, an denen ich die Dinge mehr zu schätzen weiß, Eier, Blumen, aber dann komme ich zu dem Schluß, daß ich nur unter einem Anfall von Sentimentalität leide, daß mein Gehirn allmählich pastellfarben wird, Technicolor, wie die Ansichtskarten mit den herrlichen Sonnenuntergängen, von denen in Kalifornien so viele gedruckt wurden. Hochglanzherzen. Die Gefahr liegt im grauen Einerlei.
     
    Ich hätte Luke gern hier, in diesem Schlafzimmer, während ich mich anziehe, damit ich mich mit ihm streiten könnte. Absurd, aber genau darauf habe ich Lust. Einen Streit darüber, wer das Geschirr in die Spülmaschine stellen soll, wer an der Reihe ist, die Wäsche zu sortieren, das Klo zu reinigen – irgend etwas Alltägliches und Unwichtiges im großen Plan der Dinge. Wir könnten uns sogar darüber streiten, was unwichtig und was wichtig ist. Was für ein Luxus! Nicht, daß wir uns viel gestritten hätten. Aber zur Zeit erfinde ich ganze Streitdialoge – und ebenso die Versöhnungen danach.
     
    Ich sitze auf meinem Stuhl, der Kranz an der Decke schwebt über meinem Kopf wie ein erstarrter Heiligenschein, eine Null. Ein Loch im Weltraum, wo ein Stern explodiert ist. Ein Ring auf dem Wasser, wo ein Stein hineingeworfen wurde. Alles weiß und rund. Ich warte darauf, daß der Tag sich entrollt, daß die Erde sich dreht, dem runden Zifferblatt der unerbittlichen Uhr entsprechend. Die geometrischen Tage, die immerfort im Kreis gehen, glatt und wie geölt. Bereits mit Schweiß auf der Oberlippe warte ich auf die Ankunft des unvermeidlichen Frühstückseis, das lauwarm sein wird wie das Zimmer, mit einem grünen Film um den Dotter, und leicht nach Schwefel schmecken wird.
     
    Heute, später, mit Desglen auf unserem Einkaufsgang:
    Wir gehen wie gewöhnlich zur Kirche und betrachten die Gräber. Dann zur Mauer. Nur zwei hängen heute dort: ein Katholik, aber kein Priester, mit einem auf den Kopf gestellten Kreuz gekennzeichnet, und jemand von einer anderen Sekte, die ich nicht kenne. Die Leiche ist nur mit einem J markiert, in Rot. Es bedeutet nicht Jude, denn Juden wären mit gelben Sternen gekennzeichnet. Ohnehin hat es nicht viele Juden gegeben. Sie wurden nämlich zu Söhnen Jakobs erklärt und damit zu etwas Besonderem, und sie hatten die Wahl: Sie konnten konvertieren oder nach Israel emigrieren. Viele von ihnen sind emigriert, wie man gern glauben wird. Ich habe im Fernsehen eine ganze Schiffsladung von ihnen gesehen: sie beugten sich über die Reling in ihren schwarzen Mänteln und Hüten und mit ihren langen Bärten und versuchten, so jüdisch wie möglich auszusehen – in Kleidern aus der Vergangenheit, die sie irgendwo hervorgeholt hatten, die Frauen mit Tüchern um den Kopf, lächelnd und winkend, wenn auch ein wenig steif, als stünden sie Modell; und ein anderes Bild von den reicheren, die anstanden, um ein Flugzeug zu erwischen. Desglen sagt, es seien auch etliche andere Leute auf diese Weise entkommen, indem sie vorgaben, daß sie Juden seien, aber leicht war das nicht, wegen der Tests, denen man sich unterziehen mußte, und inzwischen sind die Bedingungen noch verschärft.
    Man wird jedoch nicht aufgehängt, nur weil

Weitere Kostenlose Bücher