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Der Report der Magd

Der Report der Magd

Titel: Der Report der Magd Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
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man Jude ist. Man wird aufgehängt, weil man ein umtriebiger Jude ist, der sich nicht entscheiden will. Oder weil man nur vortäuscht, daß man konvertiert ist. Auch das kam im Fernsehen: nächtliche Razzien, geheime Anhäufungen jüdischer Dinge, die unter Betten hervorgezogen wurden, Schriften, Gebetsmäntel, Davidsterne. Und die Besitzer, verstockt, unbußfertig, von den Augen an die Schlafzimmerwand gestellt, während die kummervolle Stimme des Sprechers uns aus dem Off über ihre Tücke und ihre Undankbarkeit berichtet.
    Das J steht also nicht für Jude. Was könnte es bedeuten? Zeuge Jehovas? Jesuit? Was es auch bedeutet hat, er ist nicht minder tot.
     
    Nach dem Besichtigungsritual setzen wir unseren Weg fort. Wir streben gewöhnlich auf einen offenen Platz zu, den wir queren können, damit wir miteinander sprechen können. Wenn man es Sprechen nennen kann, dieses abgehackte Geflüster, das wir durch die Trichter unserer weißen Flügel schicken. Es ist mehr wie Telegrafieren, eine verbale Zeichensprache. Amputierte Sprache.
    Wir dürfen nie lange an ein und derselben Stelle stehen bleiben. Schließlich wollen wir nicht wegen Herumlungerns aufgegriffen werden.
    Heute wenden wir uns in die entgegengesetzte Richtung von Seelenrollen, dort gibt es einen Park, mit einem großen alten Gebäude: reich verzierte späte Viktorianik mit Buntglasfenstern. Früher wurde es Memorial Hall genannt, aber ich habe nie gewußt, wofür es eine Gedenkstätte war. Für irgendwelche Toten.
    Moira hat mir einmal erzählt, daß dort die Studenten zu essen pflegten, in den früheren Tagen der Universität. Wenn eine Frau dort hineinging, warfen sie mit Brötchen nach ihr, sagte sie.
    Warum? fragte ich. Moira war im Laufe der Jahre eine wandelnde Sammlung solcher Anekdoten geworden. Ich mochte dieses Grollen gegenüber der Vergangenheit nicht so gern.
    Damit sie wieder rausging, sagte Moira.
    Vielleicht war es eher so, wie wenn man Erdnüsse nach einem Elefanten wirft, sagte ich.
    Moira lachte; das brachte sie jederzeit fertig. Exotische Monster, sagte sie.
     
    Wir standen da und betrachteten dieses Gebäude, das von der Form her mehr oder weniger einer Kirche ähnelte, einer Kathedrale. Desglen sagt: »Ich habe gehört, daß hier die Augen ihre Bankette abhalten.«
    »Wer hat dir das gesagt?« frage ich. Es ist niemand in der Nähe, wir können freier sprechen, aber aus Gewohnheit halten wir die Stimmen gesenkt.
    »Es ist mir zu Ohren gekommen«, sagt sie. Sie hält inne, sieht mich von der Seite an, ich sehe den weißen Fleck, als ihre Flügel sich bewegen. »Es gibt eine Losung«, sagt sie.
    »Eine Losung?« frage ich. »Wofür?«
    »Damit man merkt«, sagt sie, »wer dazugehört und wer nicht.«
    Obwohl ich nicht verstehe, was es mir nützen soll, frage ich: »Und wie heißt sie?«
    »Mayday«, sagt sie, »ich habe es einmal bei dir ausprobiert.«
    »Mayday«, wiederhole ich. Ich erinnere mich an den Tag. M'aidez.
    »Benutze sie nur, wenn unbedingt nötig«, sagt Desglen. »Es ist nicht gut für uns, von zu vielen anderen im Netzwerk zu wissen. Für den Fall, daß man geschnappt wird.«
    Ich finde es schwer, an diese Flüstereien, diese Offenbarungen zu glauben, obwohl ich es im ersten Augenblick immer tue. Danach jedoch kommen sie einem unwahrscheinlich vor, sogar kindisch, wie etwas, was man nur so aus Spaß macht; wie ein Mädchenbund, wie Geheimnisse in der Schule. Oder wie die Spionageromane, die ich an Wochenenden immer las, wenn ich eigentlich meine Hausaufgaben hätte fertig machen sollen, oder wie das Spätprogramm im Fernsehen. Losungen, Dinge, die man nicht sagen darf, Menschen mit falschen Papieren, dunklen Verbindungen: Es kommt mir nicht so vor, als ob das die wahre Gestalt der Welt sein dürfte. Aber das ist meine persönliche Illusion, ein Überrest von einer Version der Realität, die ich in früheren Zeiten gelernt habe.
    Und Netzwerke. Netzwerkarbeit, einer der alten Ausdrücke meiner Mutter, verstaubter Slang von vorgestern. Noch als sie schon über sechzig war, tat sie etwas, was sie so nannte, auch wenn es, soweit ich es beurteilen konnte, nur bedeutete, mit einer anderen Frau mittagessen zu gehen.
    Ich verlasse Desglen an der Ecke. »Bis später«, sagt sie und gleitet auf dem Bürgersteig davon, während ich den Weg zum Haus hinaufgehe. Nick ist da, die Mütze schief auf dem Kopf. Heute schaut er mich nicht einmal an. Er muß jedoch auf mich gewartet haben, um seine stumme Botschaft zu übermitteln, denn

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