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Der Retuscheur

Der Retuscheur

Titel: Der Retuscheur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dimitri Stachow
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Schultern lag ein buntes Umschlagtuch.
    »Solche Sachen mache ich eigentlich nicht«, setzte ich an und fühlte dabei, dass mir meine Zunge nicht recht gehorchen wollte – die Wörter kamen irgendwie verstümmelt aus meinem Mund, mit verschluckten Endungen. »Aber für Nachbarn …«
    Das Gesicht des Ruheständlers leuchtete auf.
    »In der nächsten Woche, eher geht es nicht …«
    »Das hat keine Eile! Vorgestern ist sie erst beerdigt worden!
    Wer weiß, wie lange das mit dem Grabstein noch dauert! Die Tochter ist bloß so aufgeregt, und ich habe ihr meine Hilfe zugesagt. Es ist mir unangenehm, verstehst du, aber …«
    »Was soll hier unangenehm sein!«, sagte ich lässig, ohne zu begreifen, was mit mir los war. »Schließlich sind wir ja Nachbarn! Ich mache es, mache es gut. Nächste Woche.«
    »Vielen Dank! Hast mir aus der Klemme geholfen! Ich komme vorbei! Also dann!«
    Der Ruheständler vollführte eine Kehrtwendung und flitzte die Vortreppe hinunter.
     
    Als ich gereizt das Foto Andronkinas auf den Arbeitstisch warf und zu meinem Sessel zurückkehrte, klingelte das Telefon erneut: Wieder der Unbekannte, der nicht mit meinem Anrufbeantworter sprechen wollte.
    Ich langte nach dem Pinsel, aber statt meine Arbeit fortzusetzen, nahm ich das Foto Andronkinas und lehnte es gegen den Bücherstapel am Tischrand.
    Auch hier stimmte etwas nicht!
    Ich lehnte mich im Sessel zurück, fuhr jedoch plötzlich hoch, trat zu dem an der Wand stehenden hohen Regal mit Schubkästen, in denen ich mein Archiv aufbewahrte, und begann sie einen nach dem anderen aufzuziehen, um die Kuverts mit Fotos und Negativen herauszunehmen, dabei hatte ich es, wenn ich die Kuverts in dem einen Kasten durchgesehen hatte, so eilig, zum nächsten zu kommen, dass ich sie einfach auf den Fußboden warf. Hektisch machte ich so lange weiter, bis ich fand, wonach ich suchte: ein Foto Andronkinas, ein von mir selbst gemachtes, zufällig, auf einer Kundgebung im letzten Herbst, bevor ich in dieses Haus gezogen war. So verhält sich das also!, dachte ich. Deshalb behandelte sie mich so freundlich! Deshalb die Sympathie, die sie mir entgegenbrachte! Hatte die Frau ein Gedächtnis!
    An jenem Tag fiel mit Schnee vermischter Nieselregen. Am Morgen rief mich ein Kumpel, ein Kollege und Konkurrent, an und bat heiser, unter ständigen Hustenanfällen, darum, ihm aus der Patsche zu helfen: Er musste – und wenn der ganze Schnee verbrennt! – in seiner Redaktion Fotos von einer Kundgebung abliefern, dabei hatte er Fieber. Grippe. Und dazu auch noch einen Kater. Die brachten es fertig, ihn hochkant rauszuschmeißen. Ich tat ihm den Gefallen, obwohl ich diesen Burschen, der ständig anderen eine Grube grub, nicht mochte.
    »Ich bitte dich, Alter, ist doch kein Problem! Aber natürlich, Alter!«, sagte ich, nahm meine geliebte zuverlässige alte »Canon AF-1«, die schon die unglaublichsten heiklen Situationen miterlebt hatte, aus dem Panzerschrank, legte einen hochwertigen Film ein und fuhr los.
    Wer an das Schicksal glaubt, daran, dass unser Wesen früher oder später zutage tritt wie im Entwickler »Kodak D-82«, mit dem sich hoffnungslos verloren Geglaubtes herausholen lässt, ein unbedingt notwendiges Detail, der hätte sagen können: »Er fuhr seinem Schicksal entgegen!«
    Unsinn! Ich gestaltete mein Schicksal selbst.
    Was unser Wesen angeht, wenn wir denn eins besitzen, so ist dafür noch kein Entwickler erfunden worden. Und wird auch nicht.
    Ich fuhr deshalb hin, weil ich weder einen Kater noch Grippe und Fieber hatte. Weil ich nicht zu befürchten hatte, rausgeschmissen zu werden. Ich fuhr, weil mir dieser Kumpel und seine Probleme schnuppe waren. Wie alle anderen übrigens auch.
    Es war eine Kundgebung der üblichen Art. Ein Lkw mit darauf stehenden Funktionären. Rundherum irgendwelche erbärmlichen Gestalten, mit Fahnen und ohne. Die sie umringenden Bullen nicht weniger verbissen als die Kundgebungsteilnehmer selbst, Matsch unter den Füßen. Der nächste Sprecher, der sich auf dem Lkw aufbaute, brüllte ins Megafon:
    »… unter den Bedingungen eines totalen Angriffs auf die Rechte der Arbeiterklasse können wir keine neue Preiserhöhung zulassen!«
    Aus der Menge, unklar ob dies dem Redner oder den des Angriffs auf die Rechte der Arbeiterklasse bezichtigten Dunkelmännern galt, wurde gebrüllt:
    »Nieder!«
    Eine alte Frau schlug mit aller Kraft ihren Schöpflöffel auf einen Kochtopf, eine andere öffnete ihren zahnlosen Fischmund und versuchte ein

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