Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Retuscheur

Der Retuscheur

Titel: Der Retuscheur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dimitri Stachow
Vom Netzwerk:
vage Andeutung dessen, was die Zukunft bringen würde, was auf Grund meiner Besonderheiten Gestalt annehmen sollte. Doch seitdem ich in die Fußstapfen meines Vaters getreten war, bekam ich den Eindruck: Das existiert nicht in zeitlicher und räumlicher Distanz, sondern ist schon präsent, hier und heute, liegt in der Luft, umhüllt mich, unverständlich und unklar. Wobei dieses geheimnisvolle Etwas auf eine bestimmte, ebenfalls unverständliche Weise mit meinem Vater verbunden war.
    Die Erklärung, dass es sich um einen gesetzmäßigen Zusammenhang handelte, da ich, Genrich Genrichowitsch, der Sohn und Genrich Rudolfo witsch der Vater war, befriedigte mich nicht – sie betraf nur den Zusammenhang selbst, nicht aber den Inhalt. Allmählich, Schritt für Schritt, versuchte ich Klarheit über meine Vorgefühle zu gewinnen, herauszufinden, woraus sie erwuchsen. Ich versuchte zu erkennen, wovon die Gefahr ausging. Ich befragte meinen Vater nach unseren Verwandten, denn sollte einer meiner Onkel etwa schizophren gewesen sein, wäre es durchaus denkbar, dass diese Krankheit auch mich befallen hatte, und dann konnte meine Empfindungen am besten ein Psychiater erklären.
    Doch Verwandte gab es keine. Nicht einen. Alle waren entweder noch während der Kindheit meines Vaters gestorben oder an den Fronten aller möglichen Kriege gefallen oder in den Zeiten dazwischen erschossen worden. Wer welche Krankheiten gehabt, wer woran gelitten, wer welche Vorgefühle gehabt hatte, blieb unbekannt.
    Es war, als entledigte ich mich alles Fremden, aller Ablagerungen der Vergangenheit, um zum Kern vorzustoßen, den es, davon war ich überzeugt, geben musste. Das gelang mir, aber nur halb: Entfernte ich das Äußere, tat sich vor mir ein schwarzes Loch auf.
    Mein Vater war ein undankbarer Zuhörer. Und er wurde noch undankbarer, wenn ich wieder und wieder darauf zurückkam, was er anscheinend gründlich satthatte: das Thema meiner Empfindungen, der allenthalben in der Luft liegenden Gefahr. Er antwortete einsilbig, speiste mich manchmal mit plumpen Scherzen ab, womit er mich noch mehr in meiner Überzeugung bestärkte, dass Vorgefühle keine Bagatelle sind, dass etwas dahintersteht.
    »Leidest du unter Verfolgungswahn?«, fragte er.
    »Ja!«, erwiderte ich.
    »Oder unter Größenwahn?«
    Ich sagte wieder ja, versuchte ihm meinen Gedankengang zu erklären, doch er winkte ab.
    Allmählich gab ich die Versuche auf, etwas von ihm zu erfahren. Besonders nach dem Umzug in das neue Haus und mein neues Studio hatte ich zunehmend den Eindruck, dass alles von meiner Arbeit herrührte, meinen wenn auch nur gelegentlichen Retuschierarbeiten. Ich stellte fest, dass das Gefühl der Gefahr sich verstärkte, wenn ich retuschierte. Es war, als überschritte ich eine Scheidelinie, hinter der statt des Gewohnten Gesetze und Regeln besonderer Art herrschten. Hier kam ich in Berührung mit einer völlig neuen Welt, in der mich lauter Unannehmlichkeiten erwarteten.
    Das schwarze Loch begann zu pulsieren, und das war einer der Gründe, weshalb ich, ungeachtet des zwanghaften Bestrebens, Ungenauigkeiten zu korrigieren und fremde Mängel zu beheben, derartige Arbeiten äußerst ungern übernahm. Allenfalls konnte mich gute Vergütung reizen, mehr noch Lob für meine Fähigkeiten, die in der Tat vergleichbar waren mit dem, was der modernste Computer zu leisten imstande war, ja ihn bisweilen sogar übertrafen.
    Mehr als an allem Lob und aller Vergütung lag mir an der Meinung von Frauen: Meine – keineswegs unbedingt rein männlichen – Qualitäten durch sie gewürdigt zu sehen war für mich stets höchster Lohn.
     
    Meine Frauen unterteilten sich in zwei Kategorien: diejenigen, die man zu mir ins Studio brachte, und die Übrigen. Wie ich mich Ersteren gegenüber zu verhalten hatte, wusste ich. Hatten sie die Schwelle überschritten, gehörten sie bereits mir, zumindest teilweise. Es genügte, sie ein wenig zu locken. Ihnen etwas in Aussicht zu stellen. Sich in einem günstigen Licht zu präsentieren. Es war klar, dass ich als Fotograf nicht besser und nicht schlechter war als andere. Ich hatte eine glücklichere Hand – das ja.
    Meine Retuscheurkunst, die war schon geeignet, mich auf den Sockel zu heben.
    Zurückweisungen kamen auch vor, aber die konnten mich nie erschüttern. An die Stelle einer, die mich zurückgewiesen hatte, trat stets eine andere, die gern bereit war, mit mir wenigstens ein bisschen zusammen zu sein, wenigstens eine Nacht, wenigstens ein

Weitere Kostenlose Bücher