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Der Retuscheur

Der Retuscheur

Titel: Der Retuscheur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dimitri Stachow
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ins Gesträuch zurückgezogen haben.
    Beim Einbiegen auf die Straße war ich gezwungen, scharf nach rechts auszuweichen: In Gegenrichtung kam ein grellroter Shiguli-7 angerast.
    »Idiot!«, stieß ich hervor.
    Dass das Kulagins Wagen sein könnte, dass Kolka in eigener Person am Steuer saß und neben ihm Minajewa, die das schwarze Jäckchen gegen ein leichtes Kleid mit tiefem Ausschnitt ausgetauscht hatte, ahnte ich nicht. Wenn ich gewendet hätte, wenn ich zum Restaurant zurückgefahren wäre, hätte ich noch ein interessantes Detail entdecken können: Als Kulagins Wagen an der Vortreppe des Restaurants hielt, trat der hinter den Sträuchern stehende breitschultrige Typ aus seinem Versteck heraus, nickte Kulagin zu, und der nickte zurück.
     
    Hinterher ist man immer klüger. Hätte ich rechtzeitig ein wachsameres Auge auf meinen Agenten, auf Kolka Kulagin, gehabt, hätte ich mir Gedanken gemacht über gewisse Merkwürdigkeiten seines Verhaltens, darüber, dass er häufig Dinge wusste, die er überhaupt nicht wissen konnte, und hätte ich meine eigenen Merkwürdigkeiten etwas ernster genommen, wäre vieles nicht passiert.
    Sehr vieles.
    Ich brühte den Kaffee, füllte den großen Keramikbecher und kehrte zu meinem Arbeitstisch zurück. Das Negativ hatte stark gelitten: Wegen der Beschädigung der Gelatineschicht ließen sich keine transparenten Farben verwenden. Es blieb nichts anderes übrig, als von der Rückseite her zu retuschieren. In meine Arbeit versunken, vergaß ich den Kaffee.
    Nachdem ich die Flecken mit deckender Farbe behandelt hatte, legte ich den Pinsel weg und mein Rechte auf die Metallkugel. Sie auf dem Tisch hin und her rollend, schaffte ich es immer, meine Gedanken zu ordnen, mich zu beruhigen und zugleich meine arbeitsmüden Hände zu kühlen, doch als ich zufällig einen Blick auf meine Kugel warf, bemerkte ich darauf das Spiegelbild des gerahmten Fotos. Wozu hatte ich auch noch diese Arbeit übernommen? Reichte mir nicht das mühselige Retuschieren der für Autos Werbung machenden Girls?
    Ich stand auf, trat in nachdenklicher Betrachtung näher an das Foto heran und hockte mich davor.
    Nicht zum ersten Mal hatte ich den Eindruck, dass das schwarzweiße flache Bild Farbigkeit und Räumlichkeit besaß. Nicht die Räumlichkeit von Gegenständen, von denen man zurücktreten, die man wegwerfen, wegstoßen, von denen man sich abwenden konnte. Das war eine Räumlichkeit, die einen in sich hineinzuziehen schien, die dazu verlockte, einzutreten und sich darin aufzulösen.
    So gut wie sicher, dass meine Hand auf keine Papieroberfläche stoßen würde, streckte ich sie aus, doch rettete mich das Klingeln des Telefons.
    Ich kniff die Augen zusammen, erhob mich, ohne sie zu öffnen, ging zu dem auf dem Tisch stehenden Apparat. Die Nummer auf dem Display war mir unbekannt, und so überließ ich die Antwort dem Anrufbeantworter:
    »Danke für Ihren Anruf, aber ich bin nicht zu Hause. Hinterlassen Sie nach dem Signalton eine Nachricht. Danke!«
    Der Anrufer verzichtete jedoch darauf, eine Nachricht zu hinterlassen, nachdem er sich meine von der Elektronik verzerrte Stimme angehört hatte, legte er auf.
    Ich setzte mich hin und langte nach dem Pinsel, als es wieder klingelte – diesmal an der Tür. Ich trat ans Fenster und zog die Gardine leicht zurück: Auf meiner Vortreppe stand der Flieger im Ruhestand, der Zeitungsleser.
    »Guten Tag!«, sagte ich, die Tür öffnend. »Ich bin sehr beschäftigt. Worum geht es?«
    Der Ruheständler seufzte und schlug sich mit der zusammengerollten Zeitung auf den Oberschenkel.
    »Ja, weißt du, es geht darum …«, sagte er und verlieh seinem langen, gelben, ewig bedrückten Gesicht einen noch verloreneren Ausdruck. »Ein Fachmann wird gebraucht. Andronkina aus der Wohnung Nummer neun ist gestorben, und sie haben niemanden, der ein Foto für den Grabstein machen könnte.«
    »Kommen Sie herein!« Ich ließ die Tür los und trat zur Seite.
    »Ich komme nicht meinetwegen.« Der Ruheständler seufzte wieder. »Und ich will auch nicht stören. Hier …«Er holte aus seiner Jacketttasche ein Foto heraus und reichte es mir. »Unscharf, siehst du? Es müsste schärfer sein, größer und farbig. Ihre Tochter bat darum, sie hat es mir gesagt, und ich …«
    Ich nahm ihm das Foto aus der Hand. Auf der kleinen Amateuraufnahme saß Andronkina im Sessel, mit vor der Brust verschränkten Armen. Sie blickte irgendwie von der Seite, mit zusammengepressten Lippen ins Objektiv. Um ihre

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