Der Retuscheur
ums andere Mal, ein Lied anzustimmen: »Lenin ist noooch so jung, und der Oktooober steht noch bevor!« Komischerweise holte sie bei »bevor« mitten im Wort Luft, sang »b« – Pause – »evor«.
Ich schlenderte ein bisschen herum, machte ein paar Aufnahmen und wollte schon abziehen, als ein neuer Redner auf den Lkw stieg. Diese Aufsteigervisage erkannte ich sofort: immer noch derselbe Komsomolzeneifer in den Schweinsäuglein, dieselben rosigen Wangen.
Na, das war eine Überraschung. So tief zu fallen – statt in einem gemütlichen Büro bei den neuen Machthabern zu sitzen, sich hier im Schneeregen hinzustellen, vor einer Menge irgendwelcher Hysteriker! Das passte überhaupt nicht zu meinem alten Kumpel, der sich immer einen Platz an der Sonne zu sichern gewusst hatte.
Ich richtete das Objektiv auf den Lkw, auf meinen energisch gestikulierenden Exfreund. Mit diesem Sprücheklopfer hatte ich doch seinerzeit die Ausfahrt nach Swenigorod unternommen, wo wir den Erhalt unserer Ausweise feierten! Baibikow, der Hundesohn!
Ich bewegte den Zoom hin und her, spielte mit seiner Physiognomie, legte den Finger auf den Auslöserknopf, drückte drauf. Die »Canon« machte ihre acht Bilder in der Sekunde, aber als ich zum Abschluss noch einmal auf den Auslöser drückte, schob sich ein Gesicht vor das Objektiv und verdeckte meinen lieben Bai, der just in diesem Moment eine besonders effektvolle Pose eingenommen hatte. Ich senkte die Kamera und richtete meinen vielsagenden Blick auf die Person, die mir den Schnappschuss vermasselt hatte.
Es war Andronkina.
»Auf unserer Seite also? Gut!«, sagte diese Kuh zu mir.
»Gut, gut …«, knurrte ich und versuchte, sie mit der Schulter beiseitezuschieben.
»Für welche Zeitung? Für unsere?«, wollte sie wissen, es fehlte nicht viel, und sie hätte das »Canon«-Objektiv abgeleckt – zweieinhalbtausend DM, nebenbei bemerkt!
»Für Ihre!« Ich fasste die Kamera bequemer, drauf und dran, die Alte beim Kragen zu packen und wegzuschubsen, doch neben uns tauchte ein hochgewachsener Typ auf, den ganz offensichtlich ein Magengeschwür plagte.
Von seiner Hutkrempe floss Regenwasser, das spitze Kinn zitterte vor gerechtem Zorn.
»Wohin! Hör auf zu drängeln!«, sagte der Typ zu Andronkina.
»Ich bin mit der Presse … mit ihm bin ich hier!« Die blöde Kuh zeigte auf mich mit einer Miene, als wäre ich nicht bloß Chefredakteur »ihrer« Zeitung, sondern zumindest der Vorsitzende des Staatlichen Pressekomitees.
»Bleib stehen, Journalistin!« Der Typ drängte Andronkina zu meinem Glück ab, ich richtete das Objektiv auf den Lkw, auf Bai, der gerade mit besonderer Inbrunst in das Megafon gebrüllt hatte, und drückte auf den Auslöser, doch mein ehemaliger Busenfreund übergab das Megafon bereits an den neben ihm Stehenden und drehte mir den Rücken zu.
»Verdammt! Der Teufel soll dich …!« Ich spuckte aus, womit ich den Typ veranlasste, seine Aufmerksamkeit auf mich zu richten: Ich begann mich durch die Menge zu zwängen, die Kuh folgte mir, doch auch der Magenkranke blieb uns auf den Fersen.
»Schenken Sie mir die Zeitung? Zur Erinnerung?«
»Mache ich …« Ich war bereit, ihr alles zu versprechen, Hauptsache, sie ging mir endlich von der Pelle.
»Vielen Dank! Ich bin nämlich mal fürs Fernsehen gefilmt worden, aber gebracht haben sie es nicht … Also bitte …«
»Ich habe gesagt, ich schenke sie Ihnen, also tue ich’s auch! Geben Sie mir Ihre Adresse!«, sagte ich.
Doch da packte mich der Magenkranke am Jackenärmel.
»He, Korrespondent! Zeig deinen Ausweis! Mit wem rede ich! Halt, habe ich gesagt! Adressen verlangt er noch! Wer bist du? Woher?«
»Das ist unser Korrespondent!«, setzte sich die dumme Kuh für mich ein, aber der Magenkranke ließ nicht locker.
»Von welcher Zeitung? Den Ausweis! Den Ausweis, he!«
Ich schüttelte seine Hand ab, drehte mich um und stieß ihn vor die Brust. Er rutschte aus und fiel hin. Etwas Seltsames überkam mich: Ich konnte mich nicht enthalten, das Objektiv auf ihn zu richten und auf den Auslöser zu drücken.
Jetzt hatte ich die drei Fotos vor mir: das von dem Flieger im Ruhestand hergebrachte, das mit dem Redner, mit Bai, der über der Menge effektvoll die geballte Faust hochreckte, und ein zweites ebensolches, nur mit Andronkinas Gesicht im Vordergrund.
Einem kleinen Kuvert entnahm ich die zwei Negative des Films von der Kundgebung, befestigte sie auf der halb durchsichtigen geneigten Oberfläche des
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