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Der Retuscheur

Der Retuscheur

Titel: Der Retuscheur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dimitri Stachow
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Retuschiergeräts und griff zur Lupe.
    Ja, es war mir gelungen, diese jetzt tote Andronkina so gut zu entfernen, dass der beste Fachmann nie dahintergekommen wäre. Auf jeden Fall zeigte man sich in der Redaktion sehr zufrieden, und mein Kumpel und Konkurrent wurde grün vor Wut, als ich das ganze Geld einstrich, das ja schließlich ich verdient hatte.
    Ich griff zu der in der Tischschublade liegenden Polaroidkamera und machte eine Aufnahme von den auf dem Retuschiergerät befestigten Negativen. Auf einem Kärtchen notierte ich das Datum, dann stand ich auf, ging zum Regal, zog einen Schubkasten heraus, in dem ich meine spezielle Kollektion aufbewahrte, die Kollektion von Merkwürdigkeiten – durchsichtige kleine Zellophankuverts mit ebensolchen Polaroidfotos –, nahm ein leeres Kuvert heraus und steckte das neue Foto hinein.
    Hätte ich mich doch nicht mit der stumpfsinnigen, gedankenlosen Sammlung derer befasst, die, unter mein Retuscheurskalpell geraten, früher oder später, so oder anders, in die bessere Welt übergewechselt waren! Hätte ich doch versucht, eine – nebenbei bemerkt schon ganz ordentliche – Quantität in Qualität umzusetzen, hätte ich mich doch nur bedacht, wenigstens bedacht!
    Nein, dazu reichte es bei mir nicht: Meine Kollektion weiter ergänzend, hatte ich gewissermaßen Kraft gesammelt, mich darauf eingestellt – egal wann, Hauptsache, nicht gleich –, zu erkennen, dass ich die Gabe meines Vaters besaß.
    Eine geerbte Gabe!
     
    Da klingelte es wieder an der Tür. Das Klingeln war so beharrlich, so anhaltend, so fordernd, dass ich in der Annahme, es sei wieder der Ruheständler, nicht erst zum Fenster, sondern gleich zur Tür ging. Ich sah nicht einmal durch den Spion.
    Auf der Vortreppe stand Minajewa. Wie sie lächelte und das Riemchen ihrer Handtasche um den Finger wickelte, verriet: Das Biest war angetrunken.
    »Hallo!«, sagte sie. »Ich wollte mal nachsehen, wie die Arbeit vorangeht. Ich störe doch nicht?«
    »Die Arbeit geht voran.« Ich versperrte die Türöffnung, doch Minajewa beugte sich vor, schlüpfte unter meinem Arm durch und schritt mit wiegenden Hüften und klappernden Absätzen, das Riemchen ihrer Handtasche weiter um den Finger wickelnd, über den Fußboden meines Studios.
    Sie hatte ein gutes Parfüm, das bestimmt an die hundertsiebzig Dollar kam, die Schuhe durften an die hundert und das Röckchen gut und gern dreihundert gekostet haben, den Preis des Jäckchens konnte ich nicht bestimmen. Ihre Pobacken rollten straff unter dem sie umspannenden Stoff, die Waden waren schlank. Sie war nicht übel, diese Minajewa!
    »Selbst ich, die keinem glaubt, bin neugierig geworden, was das wohl für ein Genie ist.« Sie trat zum Tisch und drehte sich zu mir um. »Den ganzen Tag, von früh an, bekomme ich von Ihrem Freund zu hören: ›Oh, Genrich Genrichowitsch! Oh, mein Genosse! Ein großer Fotograf! Ein großer Retuscheur! Ein Unikum! Der einzige Meister seines Faches!‹ Ich habe es nicht länger ausgehalten! Mich hat immer alles Geniale angezogen. Also zeigen Sie’s mir. Was haben Sie inzwischen geschafft? Oder sollten Sie noch gar nicht angefangen haben?«
    »Ich erledige es pünktlich …«, setzte ich an und klappte die Tür zu.
    »Gerade das erscheint mir zweifelhaft!« Sie beugte sich über das Gerät, kniff die Augen zusammen, warf eine Haarsträhne aus der Stirn. »Hier haben Sie irgendeine alte Scharteke am Wickel! Seltsam! Was ist denn mit meiner Arbeit? Trotzdem möchte ich dabei sein. Das ist ja bestimmt so spannend!« Sie ging um den Arbeitstisch herum und blieb dicht vor mir stehen. »Nicht wahr, das ist doch spannend? Irgendwie habe ich diesen Eindruck. Umso mehr an Ihrer Seite. Sie sind ein interessanter Mann. Ich bin eine Menschenkennerin. Sieht man mir nicht an, wie? Aber es ist so! Nun?«
    Sie erhob sich auf die Zehenspitzen und reichte mir die Lippen zum Kuss, zog sie jedoch sofort wieder zurück, presste einen Moment lang ihre Schenkel an mich, löste ihre Hände, trat einen Schritt zurück.
    »Und legen Sie irgendeine schöne Musik auf! Etwas Fröhliches möchte ich hören!«
     
    An das Gefühl, etwas Besonderes zu sein (es ist nicht wahr, dass das ausschließlich von zumeist unbegründeten Ansprüchen derer zeugt, die solche Gefühle haben), eine Ausnahmeerscheinung unter Durchschnittsmenschen, dass in mir etwas ist, was mich gegenüber allen anderen auszeichnet, hatte ich mich schon lange gewöhnt. Anfangs war es mehr ein Vorgefühl gewesen, eine

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