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Der Retuscheur

Der Retuscheur

Titel: Der Retuscheur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dimitri Stachow
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Schalter! Ich bin in der Küche!«, rief mein Vater, ich drückte den großen roten Knopf mit der Bezeichnung »Netz«, trat in den Korridor, blieb in der Küchentür stehen.
    »Grüß dich!«, sagte ich. »Was ist das für ein Lärm?« Und wies mit dem Kopf auf das Badezimmer. »Hast du dir eine Waschmaschine gekauft?«
    »Ja«, erwiderte mein Vater selbstzufrieden. Er saß am Tisch, mit dem Rücken zum Fenster, zwischen den aufgezogenen Gardinen flutete das Sonnenlicht herein, sodass ich mir wieder die Hand vor die Augen halten musste.
    »Bist du geblendet, meine Guter? Jetzt weißt du Bescheid! Tritt ein, tritt ein! Setz dich!« Mein Vater forderte mich mit ausholender Geste auf, am Tisch Platz zu nehmen, auf dem eine kleine beschlagene Karaffe funkelte und diverser Imbiss bereitstand, dazu drei Gedecke. »Du hast auf dich warten lassen! Wann wolltest du hier sein, hm?« Er erhob sich leicht von seinem Stuhl und rief:
    »Tanja! Tanja! Genrich ist da, mein Sohn! Tanja!«
    »Was für eine Tanja?«, fragte ich, während ich mich an den Tisch setzte. »Und warum sind Gitter an den Fenstern?«
    »Bei mir ist kleine Wäsche«, sagte mein Vater, meine Frage nach den Gittern ließ er unbeantwortet. »Hast du etwas zu waschen? Dann kommst du gerade richtig. Eine ›Philips‹, bester Superextrakapitalismus aus Holland. Tanja! Hört wohl nicht?! Na schön!« Er zeigte auf die Karaffe. »Gieß ein! Wenn du sagst, du musst noch fahren, bist du nicht mehr mein Sohn! Nun?! Warum die Verspätung, he? Ich möchte wissen, warum? In die Augen, sieh mir in die Augen!« Und er lachte laut auf.
    Ich füllte das Glas meines Vaters, goss mir selbst ein, stellte die Karaffe zurück und rieb mir die Hände, die bereits eiskalt geworden waren.
    »So hättest du es längst machen sollen! Einfacher muss man sich verhalten, Söhnchen, verständlicher! Du bist zu kompliziert geworden! Und tu uns was auf die Teller. Mir unbedingt Hering. Und Zwiebeln.« Mein Vater sprang auf, rempelte mich mit der Schulter an, lief in den Korridor und riss die Badtür auf.
    »Tanja! Pause! Diese Technik verlangt kein ständiges Dabeisein. Lassen Sie alles stehen und liegen, und kommen Sie zu uns. Ich mache Sie mit meinem Sohn bekannt. Das ist eine prima Gelegenheit. Was für ein Sohn! Er hätte Diplomat oder ein namhafter Wirtschaftswissenschaftler werden können, stattdessen … Wie? Ja, er hat eben nicht auf seinen Vater gehört. Gut, gut! Wir erwarten Sie!« Er kam zurück, setzte sich auf seinen Platz und zeigte auf das dritte Glas.
    »Schenk Tanetschka ein!«
    Ich behauchte meine Finger, nahm die Karaffe und füllte auch das dritte Glas.
    Mein Vater griff nach dem seinen und sah mich an.
    »Auf dich, mein Lieber!« Er trank aus, spießte ein Stückchen Hering auf die Gabel und fuhr kauend fort:
    »Tanetschka ist ein fabelhafter Mensch! Verschönert mir nach Kräften meine Tage. Unterstützt mich. Ohne sie würde ich eingehen. Bei meinem Herzen. Und meinen Nieren! Und meiner Leber!« Mein Vater brummte zufrieden. »Ich bin ganz verrottet. Durch und durch! Und sehr alt! Zu nichts Gutem zu gebrauchen. Eine Null geworden! Was sitzt du da? Gieß ein!«
    Ich füllte wieder das Glas meines Vaters, und er beeilte sich, es auszutrinken.
    »Betreut mich besser als eine Krankenpflegerin«, fuhr er mit einem Ächzer fort. »Das« – er schnippte mit dem Fingernagel gegen die Karaffe –, »das verbietet sie mir strengstens! Ich sage ihr einfach, du hast das getrunken, gut?«
    »Gut. Aber du trinkst wirklich besser nicht!«
    »Kusch! Er wird mich belehren! Lässt sich monatelang nicht blicken, man ruft ihn an: ›Komm her!‹, und er braucht zwei Stunden! Nicht zu glauben! Gieß ein, gieß ein!«
    Ich goss ein.
    Mein Vater war kaum wiederzuerkennen. Gar nicht mal deswegen, weil er eine Frau im Hause hatte. Sorgfältig rasiert, mit einem frischen Hemd, nach teurem Eau de Cologne duftend, wirkte er wie ein völlig anderer Mensch. Vor allem die Augen. Die Augen blitzten jung unter den schweren Brauen, sie hatten ihre frühere zartblaue Farbe wiedergewonnen, die roten Äderchen, zwischen denen die Regenbogenhaut förmlich unterging, waren schmaler geworden. Was mag das für eine Frau sein?, überlegte ich -Tanetschka …
    »Erzähle!«, sagte mein Vater mit vollem Mund.
    »Worüber?« Ich stellte die Karaffe hin und spießte ein Gurkenscheibchen auf.
    »Einfach so! Hast du nichts zu erzählen?« Mein Vater legte die Gabel hin und sah mich ernst und aufmerksam

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