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Der Retuscheur

Der Retuscheur

Titel: Der Retuscheur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dimitri Stachow
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an.
    »Arbeit habe ich, Geld auch«, sagte ich kauend. »Kulagin, Kolka, du erinnerst dich doch, ich habe von ihm erzählt, er ist jetzt mein Agent. Bringt Kunden zu mir. Macht Werbung. Allerdings etwas aufdringlich. Aber er unterstützt mich. Das ist ihm nicht abzusprechen.«
    »Für wie viel?«
    »Was ›für wie viel‹?«
    »Wie viel nimmt er für sich?«
    »Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht.« Ich angelte mit der Gabel nach einem Schinkenscheibchen. »Er nimmt sich einen entsprechenden Anteil. Schließlich arbeitet er. Ist mir egal.«
    Mein Vater beugte sich leicht vor.
    »Weiber?«
    »Was ›Weiber‹?« Das Schinkenstück fiel von der Gabel, ich musste noch einmal zustechen, und jetzt wurden gleich drei Scheibchen meine Beute.
    »Beklagen sich nicht?«
    »Weswegen?«
    »Stellst dich dumm, wie?« Das Gesicht meines Vaters hatte sich zugespitzt, die Lippen waren zusammengepresst: Diese Grimasse zeugte davon, dass er sich zu ärgern begann. »Schön, stell dich nur weiter dumm. Also, du knipst, schabst und denkst an gar nichts? Ja?«
    »Ist nicht viel mit Schaben. Retuschieraufträge gibt es praktisch keine. Die Computerära hat begonnen. Weißt du das nicht? Ich bin wahrscheinlich der letzte Retuscheur im Lande. Ich gehöre ins Rote Buch.«
    »Weißt du«, bemerkte mein Vater mit gesenkter Stimme, »dein Großvater, der beste Fotomeister Ihrer Kaiserlichen Hoheiten Fotoateliers von M. I. Gribow, Fotograf der Kaiserlichen Russischen Wasserrettungsdienstgesellschaft, Moskau, Wolchonka 7, hat Retuscheure für Lakaien gehalten.«
    Er sah sein Glas an und richtete dann den Blick auf mich.
    »Der Ahnherr der Retuscheurtradition bin ich. Der Begründer. Und du bist der Erbe. Der Bewahrer der Tradition. Und mit dir soll alles sterben? Schade, dass ich es nicht geschafft habe, beizeiten eine Firma zu gründen, ›Miller & Sohn‹. Klingt doch nicht übel, wie?«
    »Nicht übel«, bestätigte ich.
    Ein paar Minuten zuvor, als ich hörte, dass die Waschmaschine ausgeschaltet wurde, hatte ich begonnen, mich auf die Begegnung mit der Frau einzustellen, die meinen Vater so verwandelt hatte. Und ich war auf alles Mögliche gefasst, bloß nicht auf eine, die so aussah. Nach dem ersten ihr zugeworfenen Blick sah ich sofort meinen Vater an.
    Er durchbohrte mich regelrecht: Die Frage: »Na, wie ist sie? Hübsch? Erkennst du sie wieder?«, stand ihm ins Gesicht geschrieben. Ich nickte – ja, sie ist hübsch, ja, ich erkenne sie! Und erhob mich. »Guten Tag …«, sagte ich.
     
    Lisa! Die um zehn, zwölf Jahre gealterte Lisa stand vor mir. Nur der voller gewordene Busen, der sich unter dem in die Jeans gesteckten T-Shirt wölbte, das etwas spitzere Kinn und die strammeren Schenkel machten den Unterschied aus, in allem Übrigen war sie wie Lisa. Hohe Jochbeine wie bei Nordländern – jemand von ihren Großeltern stammte aus Schweden oder Norwegen –, aus dem schmalen blassen Gesicht vortretende Augen, ein hoher, schmaler Hals. Und – als Dissonanz – volle, kräftig rote Lippen. Eine Schönheit? Nein.
    Aber so, dass ich meinen Blick nicht losreißen konnte. Ich war versucht, sie bei der Hand zu fassen und an mich zu ziehen. Sie zu fragen: »Wo bist du die vielen Jahre gewesen? Warum hast du nichts von dir hören lassen? Hattest du mich nicht mehr lieb? Hast du mich vergessen? Ich bin es doch, Genrich, Gena!«
    Was hätte sie wohl geantwortet. Nichts, denke ich. Sie hätte kein Wort verloren. Hätte mich verwundert angesehen, sich genauso gelassen auf den freien Stuhl gesetzt und nach ihrem gefüllten Glas gegriffen.
    Ihr Pendant war ebenfalls erstaunlich ausgeglichen. Äußerlich, bis zu einem gewissen Grade. Sogar kühl, emotionslos konnte es erscheinen. Die vollen Lippen waren fest aufeinandergepresst, allein die Flügel der schmalen Nase verrieten ihre Gemütslage.
    Lisa, meine Liebe!
    Meine Liebe seit der ersten, nein, der dritten Klasse – sie waren im Herbst vierundsechzig in unser Haus eingezogen. Ein Mensch, dessen Verschwinden die Welt für immer unvollständig, schadhaft gemacht hatte. Die nach ihrem Fortgang entstandene Leere hatte sich als unausfüllbar erwiesen. Solche wie sie gab es nicht, konnte es gar nicht geben. Alle anderen waren ersetzbar.
    Sie nahm Platz. Ihre Schlüsselbeine hoben und senkten sich, ein kleines Muttermal, genau wie bei Lisa, tauchte kurz in der kleinen Mulde über dem Schlüsselbein auf.
    Dieses Muttermal musste sich noch an meinen Kuss erinnern. Meine Lippen waren ja allmählich zu

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