Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Retuscheur

Der Retuscheur

Titel: Der Retuscheur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dimitri Stachow
Vom Netzwerk:
Fußboden hinunter.
    »Womit arbeiten Sie im Allgemeinen?«, fragte sie zur Decke hinauf.
    »Ihretwegen auch heute – mit einer ›Rolleiflex‹.«
    »Klingt hübsch!« Sie lächelte schief. »Rollei, Rolex, Rolls-Royce. Wenn man solche Wörter ausspricht, fühlt man sich als Baronesse.«
    »Warum als Baronesse?« Ich öffnete den Panzerschrank und nahm die Kamera heraus.
    »Warum nicht?«, fragte sie zurück. »Nun, ich bin so weit. Fangen Sie an! Wir haben wenig Zeit.«

Fünftes Kapitel
    In der Wohnung meines Vaters machte ich die Bekanntschaft dieser Frau.
    Jetzt ist mir klar, dass ich ihr, hätte mein Vater nicht so spezifische Fähigkeiten besessen, nie bei ihm begegnet wäre. Genauer gesagt, sie wäre nie mit diesem Auftrag der besonderen Art zu ihm geschickt worden. Die Leute, die sie dirigierten, und sie selbst schätzten die Situation ganz zutreffend ein: ein alter, einsamer Mann, der der Fürsorge und Zuwendung bedurfte, und eine junge Frau, die scheinbar einen Beschützer suchte. Um sich seine Illusion zu erhalten, die alten Jahre wenn schon nicht der Jugend, so doch wenigstens der Reife seien wiedergekehrt, würde mein Vater ihnen gewiss Zugriff auf seine Gabe gewähren. Sie waren dem Erfolg sehr nahe, hatten sich alles richtig ausgerechnet, einige Kleinigkeiten jedoch nicht berücksichtigt, die sich als entscheidend herausstellen sollten.
    Nicht nur, dass mein Vater um seine Gabe wusste. Schon lange, wahrscheinlich vom letzten Arbeitstag an, hatte er erwartet, dass jene, die seiner erneut bedurften, aufkreuzen würden. In der letzten Zeit rechnete er damit von Tag zu Tag. Und bereitete sich darauf vor. Er hatte nicht die Absicht, zur leichten Beute für sie zu werden, versuchte zumindest einigermaßen für seinen Schutz zu sorgen: ließ sich eine neue Tür aus Stahl einbauen und Gitter an den Fenstern, verließ kaum noch das Haus, und nachdem sie zum ersten Mal auf der Schwelle seiner Wohnung erschienen war, setzte er ganz auf diese Frau, die für ihn nicht nur zur Haushaltshilfe, sondern auch zur Gesprächspartnerin und – bis zu einem gewissen Grade – zur Vertrauensperson geworden war.
    Doch den Ausschlag gab etwas anderes.
    Meinem Vater war sehr wohl bewusst, wer sie war, wer hinter ihr stand und worum es ihnen allen ging. Von Letzterem erfuhr er von ihr, aber alles andere fand er selbst heraus. Es genügte ihm, diese Frau zu Gesicht zu bekommen, damit er den ersten Anstoß erhielt. Mein verrückter Vater erkannte sofort, wem sie ähnlich sah, doch da es für ihn keine Vergeltung von oben (oder auch von unten – unwichtig!) gab, glaubte er nicht daran, dass seine Taten registriert worden waren und aufgerechnet werden könnten, dass ihm irgendwann von gewissen höchsten oder untersten göttlich infernalen Instanzen die Rechnung präsentiert werden würde.
    Für ihn war eine solche Sühne reine Erfindung.
    Folglich konnte Strafe allein von denen ausgehen, die professionelle Strafende waren.
    Sie erwies sich als eine kluge Frau, scharfsinnig und fähig zu vermuten, dass mein Vater seine Gabe geerbt hatte, und dass sie vom Vater auch auf den Sohn übergegangen sein könnte. Zunächst verriet sie niemandem etwas. Sie handelte auf eigene Faust und hätte, was sie beabsichtigte, beinahe erreicht, zumal ich bei ihrem Anblick einen leichten Stich im Herzen verspürte – diese Frau war der Mensch, auf den ich seit vielen, vielen Jahren gewartet hatte.
    Ich erleichterte ihr die Aufgabe, begann sogar an einen Wettstreit mit meinem Vater zu denken, Varianten durchzuspielen, Dreiecke zu bauen. Das kam ihr sehr gelegen, doch woher sollte sie wissen, dass auch mir diese erstaunliche Ähnlichkeit aufgegangen war!
    Sie konnte es ebenso wenig wissen, wie die, denen Bestrafung oblag, etwas von der uralten Geschichte mit Lisa wissen konnten: Lisas Tod war in die Zuständigkeit einer anderen Behörde gefallen, der des Inneren.
    Einen Zusammenhang mit der Staatssicherheit gab es bei solchen Todesfällen nie.
     
    Vor der Wohnungstür meines Vaters hielt ich inne. Bin ich tatsächlich so lange nicht hier gewesen?, überlegte ich.
    Nicht nur die Tür war neu: Die verstärkte, ebenfalls metallene Türfüllung war stabil in das alte Ziegelgemäuer eingelassen. Meine Verwunderung war zunächst so groß, dass ich eine halbe Treppe tiefer stieg, zu dem nach dem Hof gehenden Fenster. Nein, ich hatte mich nicht getäuscht: Meine Hände legten sich auf das kalte marmorne Fensterbrett, und meine Finger ertasteten die vor langer

Weitere Kostenlose Bücher