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Der Retuscheur

Der Retuscheur

Titel: Der Retuscheur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dimitri Stachow
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Zeit hier eingeritzte, jetzt praktisch verwischte Inschrift »Gen + Lis = L«.
    Lisa hatte eine Etage tiefer gewohnt.
    Ich sah zum Fenster hinaus: Der Hof war leer, doch das Gefühl, beobachtet zu werden, das mich gleich bei meinem Eintreffen beschlichen hatte, kam wieder auf. Ich blickte zu den Fenstern des gegenüberliegenden Hausflügels. So war es: Jemand, der beide Hände gegen das Glas gelegt hatte, sah durch ein ebenso staubiges Treppenfenster zu mir herüber. Ich öffnete rasch mein Köfferchen, nahm die alte »Nikon« heraus, meine Kamera für alle Tage, und trat ein Stück zur Seite. Nachdem ich den Apparat eingestellt hatte, machte ich einen Schritt nach vorn, fing im Sucher das Fenster drüben ein, doch der rätselhafte Beobachter prallte jäh zurück, verwandelte sich in einen nebligen Schatten und war verschwunden.
    Ich richtete das Objektiv auf die Haustür. Meine Hände zitterten leicht. Endlich ging die Tür auf, ich legte den Finger auf den Auslöser, doch aus dem Eingang trat ein gesetzter Herr im Sommermantel über dem hellgrauen Anzug, mit Schlips und Sonnenbrille. Der Herr hielt die Tür auf und ließ einer nicht weniger gesetzten Dame den Vortritt. Rein mechanisch machte ich noch eine Aufnahme – die Dame hakte sich bei dem Herrn ein, und sie gingen ohne Eile auf den Torbogen zu – und setzte die Kamera ab: Der Beobachter hielt sich entweder versteckt, oder ich begann allmählich den Verstand zu verlieren.
    Als ich zur Wohnungstür zurückkehrte und läutete, zuckte ich vor Überraschung zusammen. Direkt in mein Gesicht zischte ein gekonnt getarnter Lautsprecher die verzerrte Begrüßung meines Vaters:
    »Guten Tag! Ich freue mich sehr über Ihren Besuch. Bitte stellen Sie sich auf die roten Fliesen, das Gesicht zur Tür, und bewegen Sie sich fünf Sekunden lang nicht.«
    Ich senkte den Blick – vier Fliesen vor der Tür waren rot und stachen durch ihre Neuheit ab von den übrigen, von der Zeit gedunkelten, abgenutzten, blassgelben –, stellte mich gehorsam auf die Fliesen, nahm Haltung an, hob den Kopf.
    »Danke!«, erklang es aus dem Lautsprecher, der Riegel des einen Schlosses glitt zur Seite, auf mich richtete sich das darunter verborgene Objektiv eines Minifotoapparats, doch dass auch der Riegel des zweiten Schlosses zur Seite glitt, bemerkte ich nicht mehr. Ein Blitzlicht schaltete sich ein, der Auslöser klickte, ich kniff instinktiv die Augen zu.
    »Ich bitte um Entschuldigung, aber wir müssen das Ganze wiederholen. Bitte versuchen Sie, nicht zu blinzeln, wenn es wieder blitzt«, sagte die Stimme meines Vaters schon etwas spöttisch.
    »Papa! Mach auf!«, rief ich, mir die Augen reibend.
    »Bewegen Sie sich fünf Sekunden lang nicht!« Mein Vater war unerbittlich, und ich musste mich konzentrieren.
    Der Blitz erhellte mein Gesicht, der Verschluss wurde ausgelöst.
    »Danke! Die Tür ist offen. Herzlich willkommen!«, ertönte es aus dem Lautsprecher, und die Schlösser schnappten auf.
    Ich zog die Tür am Griff auf, trat in den dunklen Korridor und hörte, wie hinter mir die Tür automatisch zuklappte. Der Blitz hatte mich geblendet, aus dem Korridor, in dem ich mein Köfferchen zurückließ, fand ich mit Mühe, mir wieder die Augen reibend, den Weg zum großen Zimmer, in dem wie gewohnt die dunklen Gardinen zugezogen waren, der große Kronleuchter, die Steh- und die Wandlampe brannten, der massive Schreibtisch war mit Papieren überhäuft, der dicke Teppich dämpfte die Schritte.
    »Papa! Wo bist du?«, rief ich, in der Mitte des Zimmers innehaltend.
    Neben dem Zeitschriftentischchen stand ein tiefer, niedriger Sessel, auf dem Tischchen selbst befand sich das Bedienungspult für den Fotoapparat samt Blitzlicht und für die Türschlösser. Aus dem Pult ragte ein dem Sessel zugewandtes Mikrofon mit einem elastischen Kabel und einem blinkenden roten Lämpchen.
    Ich beugte mich über das Pult und drückte aufs Geratewohl einen der Knöpfe. Es knackte leise, eine Tonbandkassette begann sich zu drehen.
    »Guten Tag! Ich freue mich sehr über Ihren Be …«
    Hastig drückte ich einen anderen Knopf und vernahm das Geräusch des Blitzlichts hinter der Wohnungstür.
    »Den Filmwechsel übernimmst du auch?«, drang die Stimme meines Vaters an mein Ohr.
    »… such. Bitte stellen Sie sich auf …«
    Ich drückte einen Knopf nach dem anderen, die Stimme meines Vaters wurde unnatürlich hoch und verzerrt, die Worte flossen ineinander:
    »Tramilitwolherand!«
    »Ausschalten! Betätige den

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