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Der Retuscheur

Der Retuscheur

Titel: Der Retuscheur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dimitri Stachow
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Genrich Rudolf o witsch, kommt vor. Möchten Sie, dass ich Ihnen Kefir bringe? Oder Zitronensaft? Was soll ich bringen?«
    »Saft.« So betrunken mein Vater war, er sah noch klar und schien diese Bemutterung zu genießen.
    Während Tatjana in die Küche ging, trat ich zum Sessel, beugte mich vor und gab meinem Vater einen Kuss auf die Wange.
    »Papa! Ich gehe!«
    Die Augen meines Vaters öffneten sich weit, nahmen einen völlig anderen Ausdruck an als noch vor einer Sekunde, er hob langsam den rechten Arm und legte ihn um meinen Hals.
    »Sei vorsichtig!«, sagte er mit völlig nüchterner Stimme. »Sei vorsichtig!«
    »Ich habe doch nicht getrunken.« Ich versuchte mich aus seinem Griff zu befreien, aber seine Finger umklammerten meinen Hals.
    »Das meine ich nicht, du Dussel!« Er stieß mich von sich und lächelte schief. »Sei vorsichtig, Genka, sei vorsichtig!« Damit wandte er sich Tatjana zu, die mit einem Glas Saft aus der Küche kam. »Mach’s gut!«
    Ich wartete ab, bis mein Vater den Saft getrunken hatte, verabschiedete mich noch einmal und ging in den Korridor.
    Tatjana, die Arme vor der Brust verschränkt, fragte, als ihr Blick auf mein Köfferchen fiel:
    »Tragen Sie das immer mit sich herum?«
    »Fast immer«, antwortete ich. »Soll ich Sie fotografieren?«
    »Ein andermal. Alles Gute!«
    »Alles Gute!« Ich nickte. »Es hat mich sehr gefreut, Ihre Bekanntschaft zu machen.«
    Sie schlüpfte an mir vorbei und öffnete die Wohnungstür. Ich trat auf sie zu und bemerkte, dass sie mir die Hand reichte. Eine schlichte alltägliche, bei ihr jedoch erstaunlich gefühlvolle Geste.
    Ihre Hand war heiß, trocken, zart. Ihre Stimme war die Lisas, und sie verhielt sich auch wie sie. Ich bin mir bis jetzt nicht sicher: Vielleicht ist es doch möglich, vielleicht ist Lisa zum Leben wiedererwacht und sieht hier unter anderem Namen nach dem Rechten?
     
    Heute, etwa anderthalb Monate später, dürfte ich mit meiner Vermutung, was in der Wohnung meines Vaters geschah, nachdem ich gegangen war, der Wahrheit sehr nahe kommen. Zumal mein Vater keineswegs so simpel war, wie es zunächst den Anschein hatte.
    Sie glaubte, ihn damit kirre machen zu können, dass sie ihn ein paarmal am Tage, auf direkte Weise oder durch Winke mit dem Zaunpfahl, zu tun veranlasste, worauf sie und die hinter ihr Stehenden es anlegten. Sie glaubte, er werde sich dem nicht entziehen, mit mehr oder weniger sanften Druckmitteln werde sie ihm schon ihren Willen aufzwingen.
    Es gelang nicht.
    Mein Vater, der nicht wusste, wie er sich aus dem Fangeisen befreien sollte, suchte Zeit zu gewinnen. Obwohl ihm klar war, dass er keine Chance hatte davonzukommen, dass sie unter keinen Umständen von ihm ablassen würden, ging er bei seinem Bestreben, Zeit zu gewinnen, von dem Prinzip aus: »Entweder der Schah stirbt oder ich.« {3} Als er schließlich einen Ausweg fand, war es schon zu spät. Der Schah blieb, wie es so zu sein pflegt, am Leben.
    Höchstwahrscheinlich kehrte sie, kaum dass die Tür hinter mir zugefallen war, ins Zimmer zurück und baute sich vor dem Sessel auf, in dem mein Vater saß, um ihn mit ihrem Blick zu durchbohren.
    Seine Lider zitterten, die Augen öffneten sich leicht, und er sah ihre Gestalt vor sich. Im Gegenlicht. Einen Heiligenschein um den Kopf.
    »Ich bitte dich eindringlich, lassen wir das«, sagte mein Vater leise. »Ich habe schon alles gesagt.« Indessen stellte er mit seinem Fotografenblick fest, dass die Haltung dieser Frau, der Spiegel ihrer inneren Welt, solcher zur Schau getragenen Beharrlichkeit nicht entsprach.
    Sie zögerte aus irgendeinem Grund, bevor sie vom Zeitschriftentischchen die Fernbedienung nahm, auf einen Knopf drückte, die Lautstärke erhöhte.
    »Angesichts des Produktionsrückgangs hoffen wir doch sehr, dass unsere Partner im nahen Ausland …«, erklang es aus dem Fernsehgerät.
    »Er?«, fragte mein Vater.
    »Ja!«, antwortete sie, offenbar schon froh darüber, dass er so leicht zu erkennen gelernt hatte, worauf es ankam.
    »Och!«, hauchte mein Vater. »Wie oft denn noch! Ich kann nicht mehr! Schalt aus!«
    Sie machte den Ton natürlich lauter, und die Stimme aus dem Fernseher erfüllte die ganze Wohnung.
    »… reale Ergebnisse werden nicht auf sich warten lassen.
    Die Hauptsache ist jetzt ein durchdachtes, abgestimmtes Vorgehen aller Ministerien und der anderen zentralen Institutionen …«
     
    Immerhin stand meinem Vater eine brauchbare Ausflucht zu Gebote: Ich bin betrunken, kann keinen klaren

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