Der Retuscheur
Lisas Lippen emporgewandert: Zuallererst hatte ich sie auf ihren Spann geküsst – wir waren um die Wette gelaufen, sie hatte sich den Fuß verknackst, ich versuchte den Schmerz zu lindern-, dann folgte das Muttermal – sie wollte mir das Rechenbuch nicht geben, wir begannen zu ringen –, und erst im Sommer, nach der neunten Klasse, nach den Ferien, kamen die Lippen dran – wir hatten uns abends im Hof getroffen, am Torbogen, sie sagte »Grüß dich!« und erhob sich auf die Zehenspitzen.
Ich erinnerte mich, wie alle drei Küsse geschmeckt hatten. Staubig, schweißig, mit dem Geschmack von Berberitzenbonbons.
Am besten war natürlich daran der Berberitzengeschmack gewesen. Zwei Nachkommen nordischer Ahnen. Ein Schüler und eine Schülerin. Beide, wie wir später einander gestanden, erschöpft von Onanie.
»Ich habe mich so gelangweilt ohne dich!«, sagte sie.
»Ich habe mich auch gelangweilt ohne dich!«, sagte ich.
Wie fade klangen meine Worte!
Wir gaben einander keine Versprechen. Schworen keine ewige Liebe. Wir liebten uns einfach, wie Fünfzehnjährige lieben können. Beide erwarteten wir die Liebeserklärung des anderen. Wir genierten uns.
Lisa entschloss sich als Erste.
»Ich liebe dich!«, sagte sie und errötete.
Ich errötete auch. Wir standen beieinander, rot wie Tomaten.
Oh, verdammt!
War das wirklich einmal gewesen? Und wie hatte sie es geschafft, sich von mir zu lösen? Dort, wo sie jetzt weilte, musste das Jahr nur halb zählen!
Mein Vater wurde sehr schnell betrunken. Auf unschöne, greisenhafte Weise. Sein Gesicht quoll auf, die Augen begannen zu tränen, er redete immer lauter und lauter, fuchtelte mit den Armen, warf dabei die Karaffe um und rutschte schließlich vom Stuhl.
Tatjana und ich bugsierten meinen Vater ins große Zimmer und setzten ihn in einen Sessel. Er machte Anstalten, sich aufzulehnen, versuchte uns zu erklären, dass er überhaupt nicht betrunken, dass es unangebracht sei, einen hinfälligen Greis aus ihm zu machen, beruhigte sich dann jedoch, legte die Arme auf die Lehnen und schloss die Augen. Aus dem leicht geöffneten Mund rann Speichel, der Kragen seines neuen Hemdes färbte sich dunkel. Allmählich sank sein Kopf zur Seite, er seufzte tief auf und war weg.
Ich trat ans Fenster und zog die Gardinen auf. Die Fenster im großen Zimmer waren gleichfalls vergittert, doch dahinter spielten die Lichter der abendlichen Stadt.
Nachdem ich die Lüftungsklappe geöffnet hatte, langte ich nach meinen Zigaretten und steckte mir eine an.
Auch ohne mich umzudrehen, wusste ich, was hinter mir vor sich ging: Tatjana saß neben dem Sessel, hielt fürsorglich die Hand meines Vaters, flüsterte ihm etwas Unhörbares, Ungereimtes, wie mir schien, eine Art Wiegenlied für Erwachsene, in das große, haarige weiße Ohr. In der Hand hielt sie die Fernbedienung und zappte sich durch die Fernsehprogramme, von einer Nachrichtensendung zur anderen.
»Ich bin nie hübschen Frauen begegnet, die sich mit solchem Interesse Nachrichtensendungen angesehen hätten«, sagte ich und blies dabei Tabakrauch zur Lüftungsklappe hinaus. »Wollen Sie gut informiert sein?«
Mit dem Rücken spürte ich ihren Blick.
»Will ich«, erwiderte sie.
»Ist das schon lange so bei Ihnen?« Ich wandte mich um.
»Sehr lange!« Sie lächelte. »Von Geburt an.«
»Ich habe den Eindruck, Sie fürchten, etwas zu verpassen«, sagte ich. »Sie warten auf eine wichtige Mitteilung, die ewig nicht kommt.«
Ihr Lächeln erlosch, sie richtete den Blick auf den Bildschirm.
»So ungefähr.«
»Oh, ich habe mich wohl etwas übernommen!«, gab mein Vater unverhofft von sich. »Genrich! Bist du noch da?«
»Noch ja, aber ich bin im Aufbruch.« Ich warf die Kippe zum Fenster hinaus. »Ich muss arbeiten. Ich würde gern dableiben, um mit euch zu Abend zu essen, aber …«
Mein Vater fuhr sich mit dem Handrücken über den Mund und verzog gequält das Gesicht.
»Abendessen – nein, ohne mich. Ich gehe schlafen. Sich so volllaufen zu lassen! Beschämend! Tanja! Tanja!« Er rief nach ihr, als ob sie nicht bei ihm säße, nicht seine Hand hielte.
»Ich bin hier, Genrich Rudolfowitsch, hier.«
»Ah! Ja!« Mein Vater blinzelte wie ein müdes Huhn. »Eine Schande ist das, nicht wahr, Tanja?! Sich so zu betrinken!«
»Halb so schlimm.« Sie sprach im Ton einer Krankenpflegerin, die lange Jahre bei den angesichts ihrer übermäßigen Verantwortung übergeschnappten Mächtigen dieser Welt gearbeitet hatte. »Kommt vor,
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