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Der Retuscheur

Der Retuscheur

Titel: Der Retuscheur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dimitri Stachow
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er.
    »Dieser Ansicht waren einige. Dass er krank wäre.« Ich fingerte eine neue Zigarette aus der Schachtel. »Er war aber nicht krank. Er wusste, dass die Ursache in Wirklichkeit in seiner Arbeit zu suchen war.«
    Kulagin gab mir Feuer.
    In der in die Küche führenden Tür erschien meine Tanja-Lisa, ein Geschirrtuch über der Schulter, mit einem Teller Gemüse. Sie kam herein und stellte den Teller auf den Tisch. Ich griff mir sofort ein knubbliges Gürkchen und biss hinein, dass es knirschte.
    »Natürlich, natürlich.« Kulagin nickte.
    »Ich habe es nicht geglaubt. Zunächst. Und dann … Und jetzt … Meine eigenen Schlussfolgerungen. Eins kommt zum andern. Das ist erblich. Das ging allmählich auf mich über.« Ich seufzte tief und entschloss mich zu dem Eingeständnis:
    »Weißt du was?«
    »Was denn?« Kulagin tastete nach der Flasche auf dem Tisch, goss sich und mir ein und stellte die Flasche zurück.
    »Trinken wir!«, sagte ich und kippte mein Glas.
    »Trinken wir«, stimmte er zu, nippte aber nur.
    Ich fuhr fort:
    »Ich habe ein Archiv meiner Opfer angelegt. Übrigens, hat dir mein Vater etwas davon gesagt? Obwohl, kaum, kaum. Du gefielst ihm nicht.« Ich versuchte einen Zug zu nehmen, aber meine Zigarette war ausgegangen.
    Kulagin gab mir aufs Neue Feuer, ich verzog das Gesicht, da mir der Rauch in die Augen stieg. Beim Reiben der Augen fiel mir die Zigarette abermals aus den Fingern. Ich vergrub mein Gesicht in den Händen. Kulagin drückte auch diese Zigarette aus und schenkte mir wieder ein.
    »Und warum hast du ihm nicht gefallen, Koletschka?« Ich nahm die Hände vom Gesicht. »Na, warum?« Ich griff nach dem Glas, schnupperte und konnte mich eines leichten Ekelgefühls nicht erwehren.
    »Weil er auch mir davon erzählt hat. Ich habe doch auch für ihn Aufträge besorgt, sie ihm nach Hause gebracht. Wusstest du das nicht? Wie jetzt dir. Und da habe ich ihm einmal gesagt, dass das alles Quatsch ist. Blödsinn. Er war tatsächlich krank. Und du – du bist dabei, krank zu werden!«
    Ich trank langsam aus, stellte das Glas so schwungvoll auf den Tisch, dass es zerbrach.
    »Krank?«, fragte ich, ohne zu spüren, dass sich mir ein scharfer Splitter in die Hand bohrte. »Du sagst, er war krank? Und ich bin also dabei, krank zu werden? So!«
    Ich stand auf. Der Stuhl fiel um, mit Mühe hielt ich das Gleichgewicht, ich stieß mich vom Tisch ab und ging schwankend zum Regal.
    »Genosse! Schon gut!«, sagte Kulagin, der sitzen blieb. »Entschuldige! Ich wollte das nicht. Tut mir sehr leid! Ich wollte etwas anderes sagen!«
    Ich riss einen Kasten aus dem Regal und kippte seinen Inhalt auf den Fußboden. Da stand auch Kulagin auf, ging um den Tisch herum und trat ebenfalls zum Regal. Ich zog einen anderen Kasten heraus.
    »Ich soll dabei sein, krank zu werden – ich?« Ich schleuderte Fotos, Kuverts, Papiere mit dem Fuß weg. »Ich? Ich bin nicht krank! Ich bin absolut gesund. Absolut. Und das ist schlecht, sehr schlecht!«
    Kulagin versuchte mich von dem Regal wegzuziehen, aber ich versetzte ihm einen Stoß.
    »Hör auf«, sagte er. »Gena, hör auf! Ich verstehe alles, aber hör mir zu …«
    »Geh! Hau ab!«, schrie ich. »Lass mich!«
    »Genka! Warte! Trinken wir noch was, gedenken deines Vaters. Verzeih mir. Verzeih mir bitte, ich wollte dir doch etwas anderes sagen!«
    »Nein! Das wolltest du sagen!« Ich war nicht mehr zu halten. »Das! Du hast gesagt …« Wir standen uns von Angesicht zu Angesicht gegenüber, ich sah ihm in die Augen.
    Dann holte ich weit aus, aber er wich meiner Faust aus. Wieder setzte ich zum Schlag an.
    »So hilf doch!«, rief Kulagin Tatjana zu.
    Sie rührte sich nicht von ihrem Platz, und mein zweiter Schlag traf: Kulagin flog gegen den Tisch, konnte sich nicht auf den Beinen halten, bekam das Tischtuch zu packen. Die Flaschen fielen vom Tisch, vom Glas meines Vaters flog das Stück Brot, dann folgte auch das Glas.
    »Hau ab! Raus hier!«, brüllte ich. »Ich will dich nicht mehr sehen! Hau ab!«
    Kulagin richtete sich auf und sah mich befremdet an. Da erst erhob sich Tatjana langsam, trat näher, legte mir die Hand auf die Schulter. Ich zuckte zusammen.
    »Er war nicht krank!«, sagte ich. »Und das war auch kein Unglücksfall! Er ist ermordet worden! Ermordet!«
    »Geh!«, flüsterte sie Kulagin zu und streichelte mir den Hinterkopf.
    »Er war gesund!«, schluchzte ich auf. »Er hat sich einfach versteckt, er hatte Angst, er wollte nicht mehr.«
    Die Tür klappte zu.

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