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Der Retuscheur

Der Retuscheur

Titel: Der Retuscheur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dimitri Stachow
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Befehle erhielt, hat den Bogen überspannt, verstehst du? Kannte keine Grenzen. Meinte, ihm könne keiner was. Aber bei mir hat sich auch sein Negativ gefunden! Und niemand wird es glauben! Niemals! Ich hätte alles bekommen können. Ich hätte tun können, was ich wollte. Aber ich habe nicht über die Stränge geschlagen. Ich verhielt mich ruhig. Ich war immer nach allen Seiten abgesichert. Nicht so wie du, mein lieber Sohn!«
    »Na schön! Genug jetzt!« Ich machte mich von seinen Händen frei. »Hör auf! Ich wollte dir erzählen …«
    »Verlier keine Zeit.« Er schloss die Augen und sprach jetzt leise. »Ich weiß selbst alles. Details sind unwichtig. Du hast jemanden vom Negativ geschabt, und es gibt einen Scheißkerl weniger. Oder zwei. Oder ein Dutzend. Eine bekannte Sache. Das haben wir hinter uns. Nicht über die musst du dir Gedanken machen. Mit denen ist es aus. An dich musst du denken.« Er öffnete die Augen und sah mich mitleidig an. »Ein Dummkopf bist du, Genka! Und was für einer! Guck doch mal raus! Sieh nach, ob keiner in der Nähe ist!«
    Ich spähte auf die Straße hinaus. Fahrbahn und Bürgersteig waren leer. Alles ringsum schien ausgestorben. Ich hob den Kopf. Die Sonne flirrte am verblassten Himmel.
    »Keiner zu sehen.«
    »Gut. Hör dir meinen Plan an. Wir gehen raus. Nach rechts. Fünfundzwanzig Meter weit. Dann passieren wir die Pförtnerloge der Kartonagenfabrik. Den Wachmann beachten wir nicht. Von der Pförtnerloge gehen wir geradeaus, dann nach links. Dort ist ein Zaun, in dem Zaun ist ein Loch. Durch das Loch gelangen wir in meinen Hof. Ich gehe voran. Verstanden? Ich habe gefragt, ob du verstanden hast.«
    »Verstanden!«
    »Wiederhole!«
    Ich wiederholte.
    »Gut. Wenigstens das hast du kapiert. Also, auf drei geht’s los. Jetzt zu dieser Tatjana. Meinst du, ich hätte nicht erkannt, wem sie ähnlich sieht? Ich habe es, und ob ich es habe! Ich habe ja selber angebissen. Dachte, ich könnte so Sühne leisten.«
    »Was für Sühne?«, wollte ich wissen.
    »Später, Genka, später! Merk dir bloß – diese Tanka … Nein, auch davon später! Nun, was guckst du so? Zähl schon!«
    »Was?«
    »Eins, zwei …«
    »Eins, zwei …«, begann ich gehorsam.
    Wir traten auf die Uferstraße hinaus, mein Vater ging ein Stück voran, ich einen halben Schritt dahinter. Er mit leicht gekrümmtem Rücken, die Hände tief in den Hosentaschen vergraben, mit jungem, energischem Gang. Ich hastete hinter ihm her.
    »Erinnerst du dich noch an Baibikow?«, fragte mein Vater über die Schulter.
    »Maxim? Natürlich!«
    »Ich meine doch nicht ihn! Seinen Vater! Den General.«
    »Was für einen General? Sein Vater war General?«
    »Ja, Eisenbahngeneral. Die rechte Hand von Kaganowitsch {5} . Erinnerst du dich?«
    »Nein.«
    »Schon gut! Er ist in unser Haus eingezogen, wohnt bei mir auf der Etage.« Mein Vater hielt inne, und ich prallte gegen ihn. »Und zu Maxim hast du noch Kontakt?«
    »Nein.«
    »Ruf ihn an, unbedingt! Verstanden?«
    »Wozu?«
    »Ich habe gesagt – ruf ihn an. Verabrede dich mit ihm …«
    Von hinten kommender Lärm veranlasste mich zum Umdrehen: Ein Lkw war auf den Bürgersteig gefahren und näherte sich uns mit hoher Geschwindigkeit.
    »Vater!«, schrie ich auf.
    Mein Vater schien nichts zu hören: Er winkte ab und murmelte, während er auf dem Bürgersteig weiterging, vor sich hin:
    »Ich war immer abgesichert. Mir kann auch jetzt keiner ans Leder. Euch fehlt der Mumm! Ja, der fehlt euch!«
    Der Lkw hatte uns fast erreicht, ich warf mich nach vorn, um meinen Vater wegzustoßen. Der Lkw hupte, und da geschah etwas völlig Unglaubliches: Mein Vater wandte sich um und betrachtete den näher kommenden Koloss mit sardonischem Lächeln.
    Im nächsten Moment erfasste uns der Lkw.
     
    Ich kam noch glimpflich davon: Vom Kotflügel gestreift, wurde ich zur Seite geschleudert. Dabei zog ich mir eine leichte Gehirnerschütterung und Hautabschürfungen zu. Auf unerklärliche Weise hatte mich etwas von meinem Vater getrennt.
    In dem Menschenauflauf, der sich bildete, glaubte man, ich sei ebenfalls tot, auch die im Rettungswagen waren davon überzeugt. Insofern zeigten sich alle höchst erstaunt, als ich stöhnend versuchte, allein aufzustehen. Ich wurde in das Fahrzeug verfrachtet und ins Krankenhaus gebracht. Unterwegs verlor ich – ganz bestimmt durch eine Spritze – das Bewusstsein, erst im Krankenzimmer kam ich wieder zu mir.
    Das Erste, was deutlich aus dem Geflimmer vor meinen Augen

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