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Der Retuscheur

Der Retuscheur

Titel: Der Retuscheur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dimitri Stachow
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zittern leicht.
    »Müde, Genrich?«, fragt ihn von hinten Boris Vikentjewitsch und zündet sich eine Papirossa an. »Macht nichts. Ruhst dich aus. Hast es dir verdient! Diese Arbeit war nicht schlechter als die mit deinem Namensvetter. Sic transit gloria mundi! Sic …«
    Mein Vater schmunzelt – Genrich Jagoda {6} von einem Foto zu entfernen war sein erster ernsthafter Auftrag gewesen.
    Er legt die Hände langsam auf die große Metallkugel auf dem Tisch. Geräuschvoll an der Papirossa ziehend, schreitet Boris Vikentjewitsch durch das Labor, hin und wieder macht er an dem Tisch unmittelbar neben der Tür Halt. Auf ihm liegen zwei große Negative und ein Packen Fotos. Mein Vater dreht sich um: Er wartet darauf, noch ein Lob zu hören, doch Boris Vikentjewitsch schweigt. Mein Vater steht auf und tritt zu dem Tisch. Die Negative sind beide gleich, abgesehen davon, dass auf dem linken eine Gestalt fehlt, die auf dem rechten mit drauf ist.
    Boris Vikentjewitsch drängt meinen Vater mit der Schulter zur Seite und beugt sich über die soeben gemachten Abzüge mit ihrer glänzenden Oberfläche: Auf dem einen sind Woroschilow, Molotow, Stalin und Jeshow {7} an der Mauer des Moskwa-Wolga-Kanals zu sehen, auf dem anderen dieselben Leute, aber ohne Jeshow.
    »Du bist ein Unikum, Genrich«, sagt Boris Vikentjewitsch nachdenklich. »Die Geschichte wird hier gemacht! Es gab einen Volkskommissar, und den gibt es nicht mehr! Hast du keine Angst?«
    »Nein«, antwortet mein Vater.
    »Nein?« Boris Vikentjewitsch wendet sich ihm zu. »Nein? Du bist mutig. Mutig und unersetzlich. Unersetzliche Leute aber gibt es nicht. Sag, Genrich, hast du nicht ohne mein Wissen eine Negativsammlung angelegt? Von meiner Person gar nicht zu reden. Sag, bereitest du keinen Terroranschlag vor? Sag es mir!« Er legt seinen Arm um den Hals meines Vaters und zieht ihn zu sich heran.
    Mein Vater versucht sich loszumachen, was ihm nicht gleich gelingt. Wie zwei Ringer treten sie von einem Bein auf das andere und nähern sich so allmählich dem Tisch, an dem mein Vater gesessen hat, prallen gegen ihn, und von dem Stoß beginnt die Kugel langsam über die Tischplatte zu rollen. »Tue ich nicht!«, sagt mein Vater.
    »Du lügst, du Mistkerl! Du lügst!«, zischt Boris Vikentjewitsch. »Nimm dich in Acht, du!« Er gibt meinen Vater frei, der beeilt sich, die Kugel abzufangen, die vom Tisch zu fallen droht.
     
    Völlig klar, dass mein Vater immer bestrebt war, seinen Verführer, der ihm den Weg gewiesen hatte, loszuwerden. Warum hat er es dann aber so lange ertragen? Warum hat er es nicht gleich getan?
    Wahrscheinlich nur deshalb, weil er an dem, was er zu tun hatte, tatsächlich Gefallen fand. In einer anderen Stellung hätte er einfach nicht solche Möglichkeiten gehabt. Zwar unternahm er Anstrengungen, vom NKWD wegzukommen, doch stand dahinter eher der geheime Wunsch, seine Unabhängigkeit und Unersetzlichkeit zu demonstrieren.
    Natürlich klappte es nicht mit seinen Plänen.
    Ich sehe ihn vor dem Schreibtisch strammstehen. Am Tisch sitzt Boris Vikentjewitsch und schreibt etwas. Mein Vater blickt auf dessen über die Papiere gebeugten Kopf, endlich reißt sich Boris Vikentjewitsch von ihnen los:
    »Du bist noch hier? Ah, ja, ja!«, sagt er, zieht die Tischschublade heraus, entnimmt ihr ein Kuvert und reicht es meinem Vater.
    »Diese hier. Bis heute Abend. Geh!«
    Mein Vater nimmt das Kuvert, bleibt jedoch stehen.
    »Was noch? Ach ja, dein Bericht!« Boris Vikentjewitsch lächelt breit. »Ich habe mir den Hintern damit gewischt, Miller. Klar?«
     
    Warum hat sich mein Vater nicht eher frei gemacht? Warum hat er, da er ohnehin im Vorwärtsschreiten war und es kein Zurück gab, nicht angefangen, seine Gabe nach eigenem Ermessen zu nutzen! Er hätte das Unerreichbare erreichen, alles Mögliche werden können, Machthaber, Herrscher über alles, was da ist, über all das, was sich auf Fotomaterial festhalten lässt!
    Die Macht spielte an der Spitze seines Schabers.
    Bemerkte er sie nicht? Er wollte es nicht! Nie werde ich es glauben, dass sie ihn nicht beschäftigt hat. Sie war doch so nahe.
     
    Gegen Mittag wachte ich auf, öffnete, auf dem Rücken liegend, langsam die Augen, drehte den Kopf zur Seite. Auf dem Stuhl neben dem Bett sah ich einen Wust von Sachen, meine und ihre bunt durcheinander. In der Küche zischte Fett in der Pfanne. Dieses Geräusch war es, was mich geweckt hatte. Ich ließ meine Beine auf den Fußboden hinunter – ihre Schuhe lagen neben

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