Der Retuscheur
nur zwei Leute. Er selbst und sein unmittelbarer Chef, Boris Vikentjewitsch. Niemand wäre jemals dahintergekommen, dass Geschichte – ja, ja, Geschichte! – im Lichte einer roten Lampe gemacht wurde, im Fotolabor des NKWD/MGB.
Dort nahm sie Gestalt an, dort hatte sie auch ihren Ausgangspunkt.
Fotos mit großen Tieren wurden wie Verzögerungsminen aufbewahrt – bis zum nächsten spektakulären Prozess, bis zu einem Verkehrsunfall, einem plötzlichen Tod. Dann wurden sie an Druckereien und Verlage verschickt mit der striktesten Anweisung, frühere Aufnahmen zu vernichten, jene, auf denen das betreffende hohe Tier noch in seiner Machtfülle und Wichtigkeit strahlte, auszuwechseln gegen diese neuen, auf denen an seiner Stelle das Detail einer Landschaft, eines Interieurs, der Hintergrund einer Szene zu sehen war. In besonderen Fällen konnte mein Vater anstelle eines entfernten hohen Amtsträgers einen anderen einfügen, einen von denen, die noch nicht an der Reihe waren, weggeschabt zu werden. Solche Fotos wurden ebenfalls, wenn auch mit weniger strikten Anweisungen, an die entsprechenden Adressen geschickt, und niemand – niemand! – wagte es, die Rechtmäßigkeit der Auswechselung anzuzweifeln. Aus Enzyklopädien riss man bedenkenlos, ja leichten Herzens Seiten heraus, zieh sich der Vergesslichkeit: »Ja, natürlich, natürlich, auf diesem Parteitag ist er nicht dabei gewesen! Ich erinnere mich an alles sehr genau! Das waren Trotzkisten, japanische Spione, Schädlinge! Sie haben uns diese Bildmontage untergeschoben! Zur Verantwortung ziehen! Erschießen!«
Kleinen Leuten dagegen, den gewöhnlichen Kunden meines Vaters, wurde solche Ehre nicht zuteil. Bei ihnen war alles einfacher – doch eine solche Gabe auf inferiore Wesen zu verwenden war Verschwendung. Mein Vater, davon bin ich überzeugt, hat seinen Chef verschiedentlich auf derartige Vergeudung aufmerksam gemacht, wurde aber jedes Mal zurechtgewiesen: Er räsoniert noch! Auftrag erfüllen! Das Land ist von Feinden umzingelt! Stillgestanden!
Mit der Begabung im Allgemeinen und der meines Vaters wie der meinen im Besonderen verhält sich alles ganz und gar nicht einfach.
War vielleicht mein Vater schuld daran, dass sich das Schicksal so gefügt hat, dass etwas oder jemand ausgerechnet ihn erkoren, ausgerechnet in seine Hände ein so schreckliches Können gelegt hatte? Natürlich nicht! Weder mein Vater noch ich tragen irgendeine Schuld! Genauso wenig wie mein Großvater.
Das ist Schicksal. Jemandem ist eben ein solches beschieden. Nichts zu machen.
Wer einen Menschen auf sein Schicksal hinweist, wer ihn veranlasst, sich dementsprechend zu verhalten – ja, der lädt Schuld auf sich. Er sorgt dafür, dass derjenige die Erfahrung dessen macht, was die meisten, die allermeisten bis zu ihrem Tode nicht erfahren. Ihre Bestimmung. Alle Übrigen verwenden darauf keinen Gedanken. Und leben einfach ihr Leben. Schicksal, Bestimmung sind für sie nichts als schöne Worte, die Rechtfertigung der eigenen Bedeutungslosigkeit. Das ist mein Schicksal, mein Los, so ein kleiner Mensch bin ich, ein Insekt.
Mein Vater dachte über das seinige nicht nach. Er hatte es sich nicht ausgesucht. Es war nicht sein Schicksal, dass er auf irgendeine Weise zu dieser schrecklichen Gabe gekommen war. Es war nicht seine Bestimmung, diese Gabe zu erwerben. Im Gegenteil! Allein deshalb, weil er diese Gabe besaß, hatte sich sein Schicksal so gefügt. Die Gabe war vor meinem Vater da gewesen, und folglich auch seine Bestimmung.
Den, der einem Menschen seinen Weg weist, ihn auf diesen Weg bringt, ihn veranlasst, seiner beängstigenden Perspektive ins Auge zu sehen und sich nicht abzuwenden, kann man mit Fug und Recht als Teufel bezeichnen. Oder zumindest als Verführer. Manche, denen die Möglichkeit gegeben wurde, ihr Schicksal zu erschauen, versuchen ihm ja zu entfliehen. Hatte er sich mit dem seinen abgefunden? Nicht nur das. Mir scheint, er freute sich, dass ihm gerade dieses Los zugefallen war.
Ich sehe ihn vor mir im Fotolabor. Er drückt auf den Knopf der roten Lampe, für einen Augenblick versinkt das Labor in tiefste Finsternis, doch Boris Vikentjewitsch betätigt den Schalter, und unter der Decke geht das Licht eines großen Leuchters an. Mein Vater zieht den Kittel aus – darunter trägt er seine Uniform: Jacke, Stiefel, Breeches –, wirft ihn auf eine Stuhllehne, setzt sich, streicht sich erschöpft die Haare aus der Stirn, hebt die Hände vor die Augen. Seine Finger
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