Der Retuscheur
Kulagin war gegangen.
Was weiter war? Wir standen neben den umgekippten Schubkästen und hielten uns umarmt.
Vom Tisch her bot das sicherlich keinen schlechten Anblick: ein Papierwust auf dem Fußboden, vor dem Hintergrund des Regals. Dunkle Töne, die Dramatik und Spannung vermittelten. Wie eine Bassstimme, kehliger, aus der Tiefe kommender Gesang. Nichts von Lyrik, alles durchdrungen von Spannung, die hochzuschlagen, durchzubrechen droht.
»Möchtest du etwas essen?«, fragte sie. »Du hast nichts gegessen.«
»Ich habe keinen Hunger!« Ich rückte ein wenig ab. Ihre Augen waren ganz nahe, ihr aufmerksamer Blick ließ mich nicht los, war fester als ihre Umarmung.
»Möchtest du dann noch etwas trinken?«
»Ja!« Ich nickte. »Ich muss jetzt trinken.« Ich nahm ihre Hände von meinen Schultern, führte sie an meine Lippen. »Bleibst du?«, fragte ich.
»Ja«, erwiderte sie.
Und sie blieb.
Achtes Kapitel
Ich hatte das selbst gewollt.
Ich hatte ihr selbst angeboten zu bleiben. Die Schuld anderen und ihren arglistigen Absichten zu geben ist das Einfachste von der Welt. Ich habe mich unbesonnen in die Sache gestürzt. Was einen jahrelang beschäftigt, was man loswerden oder, umgekehrt, überdenken, wenigstens in Gedanken ganz anders machen möchte, kommt früher oder später an die Oberfläche, um ein eigenes Leben zu beginnen.
In welcher Form auch immer. Selbst in einer, die man zunächst nicht begreift – was hat das alles mit mir zu tun?
Wollte ich sagen, ich hätte fast zwanzig Jahre lang, jeden Tag, jede Minute, an Lisa gedacht, hieße das zu lügen. Ihr Bild stand mir immer seltener vor Augen, und dann schien es für immer verschwunden. Solches Vergessen ist am gefährlichsten: Das Vergessene kehrt plötzlich zurück, nimmt mit vehementer Kraft Gestalt an, vermag einen selbst derer zu berauben.
Aber zu einer so klaren Einschätzung bin ich erst jetzt fähig.
Nach dem Totenmahl, das in die Szene mit Kulagin mündete, nach der Umarmung mit Tatjana, nachdem ich alle Neigen ausgetrunken hatte, ins Bett gefallen und praktisch sofort wieder hochgefahren und aufs Klo gestürzt war, um mich zu übergeben, hatte ich eine wesentlich einfachere Sicht der Dinge. Ich beschloss, ruhig durchs Leben zu schwimmen und ganz sacht an einem neuen Ufer anzulegen.
Wenn ich jetzt an Lisa denke, wie sehr Tatjana ihr ähnelte oder umgekehrt Lisa Tatjana, kommt mir der Gedanke, dass an mir Rache geübt wurde, Vergeltung. Für Lisas Tod.
Da mein Vater nun tot ist, trifft die Rache mich, den Erben, den Nachfolger. Das Messer habe ich geschwenkt. Ich bin zum Werkzeug geworden. Mein Vater hat lediglich ihr, Lisas, Foto mit Absicht beschädigt. Beweis das mal!
Der Einzige, der es vielleicht glauben wird, ist mein lieber kahlköpfiger Untersuchungsführer, doch der ist weit, zu weit weg, auf ihn kann ich nicht bauen.
Nein, am Tag nach dem Totenmahl dachte ich an nichts dergleichen. Alle meine Gedanken waren mit einem beschäftigt: wie ich es am besten anstellte, dass Tatjana am Morgen nicht wegging.
Sie ging nicht. Mehr noch – mein Ausrasten und das anschließende Kotzen auf dem Klo nahm sie gelassen hin.
Sie tat, was zu tun war, um mir über meinen Rausch hinwegzuhelfen. Brachte mich ins Bett und begrüßte mich am Morgen mit der Kunde: »Das Frühstück ist fertig!«
Ich bin davon überzeugt: Meinem Vater gefiel sein Dienst. Der Grund war weder die Uniform noch die Zugehörigkeit zu einer allmächtigen Institution. Er fand, glaube ich jetzt, Gefallen an der Erfüllung seiner Aufträge. Er legte sogar, ohne die gebotene Unterordnung zu missachten, Initiative an den Tag. Nicht bei der Auswahl der Objekte natürlich. Bei der Arbeit selbst. Er machte Verbesserungsvorschläge, und die Lösung besonders schwieriger Aufgaben – wenn es galt, das Wegschaben so hinzukriegen, dass selbst der penibelste Fachmann nicht feststellen konnte, ob hier jemand Hand angelegt hatte – bereitete ihm eine mit nichts zu vergleichende Freude.
Sein Dienst ersetzte ihm alles. Verwandte, Freunde, die Frau, Geliebte. Zärtlichkeit, Verständnis, Liebe.
Möglich, dass er von Zeit zu Zeit Gewissensbisse spürte. Möglich, dass er sogar litt, nachts nicht schlafen konnte. Dennoch, etwas so zu erledigen, wie es keiner sonst schaffte – das war es, was ihn reizte. Es gab noch andere Spezialisten, aber jemanden mit einem einzigen Schaberzug ins Jenseits zu befördern, dazu war niemand außer ihm in der Lage.
Von der Gabe meines Vaters wussten
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