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Der Retuscheur

Der Retuscheur

Titel: Der Retuscheur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dimitri Stachow
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sagte ich und machte mich von seinem Griff frei.
    »Recht so!« Er wandte sich dem Ersten zu. »Nun? Wir müssen weiter zum Danilowskoje-Friedhof.«
    »Ja«, pflichtete der ihm bei, »zum Danilowskoje!«
    »Und das Totenmahl? Ich dachte, Sie …«
    »Seien Sie stark!« Der Zweite legte mir seine Hand auf die Schulter, zog mich an sich – sodass ich mich ein wenig vorbeugen musste –, als wollte er nachsehen, wie groß meine Glatze schon war.
    »Er ist mir noch aus dem Jahre neununddreißig in Erinnerung! Aus dem Jahre neununddreißig!«
    Der Erste fasste den Zweiten am Ellbogen und zog ihn fort vom Grab. Sie traten hinaus auf den Weg zwischen den Einfriedungen, schlurften ihn entlang, bogen auf die Friedhofsallee ein, verschwanden hinter dichtem Laubwerk.
    Ich sah mich um – meine schrullige Nachbarin hatte sich anscheinend schon vorher abgesetzt, Kulagin entlohnte den Brigadier der Friedhofsarbeiter. Der stand vor ihm und hielt die rechte Hand auf, Kulagin legte die Geldscheine hinein, mit der Linken beförderte der Brigadier sie in die Tasche seiner in Segeltuchstiefeln steckenden schwarzen Hosen. Als Kulagin mit der Abrechnung fertig war, kam er zu mir.
    »Nun? Fahren wir?«, fragte er.
    »Fahr du, Kolja. Ich bleibe noch …«
    »Ich warte! Du wolltest doch irgendwelche Sachen mitnehmen. Aus der Wohnung deines Vaters. Ich helfe dir!«
    »Später. Morgen. Fahr zu. Am Abend bei mir.«
    »Na gut. Bis zum Abend!« Und Kulagin ging auch.
     
    Ich hätte ruhig dastehen sollen, sozusagen in der Umarmung der Trauer, die Augen auf die Erde gerichtet, doch sah ich seitlich, hinter den Nebengräbern hervor, eine Frauengestalt auftauchen. Sie war es.
    Mit einem Blumenstrauß. Sie schien gewartet zu haben, dass alle gingen.
    Ganz und gar wie Lisa! Und mit Lisas Gang kam sie langsam näher, stellte sich neben mich, sagte leise:
    »Grüß dich …«
    Als Antwort nickte ich nur. Ich war versucht zu sagen, dass mir jetzt nicht mehr so schwer ums Herz sei, dass jetzt bei mir alles gut werde, dass ich für sie alles, aber auch alles tun werde, doch die Nähe des frischen Grabes gebot mir Einhalt.
    »Dein Vater war der letzte … Das heißt, ich wollte sagen, er …«, begann sie, und ich fühlte ihren aufmerksamen Blick auf mir ruhen. »Solche Menschen gibt es nicht mehr.«
    »Danke.« Ich nickte.
    In den Grabhügel war ein Täfelchen gesteckt. Ich trat vor, beugte mich herunter, nahm ein Foto meines Vaters aus der Tasche und befestigte es an dem Täfelchen. Tatjana stellte sich zu mir.
    »Das war sein Lieblingsfoto«, sagte ich. »Hier ist er noch jung. Er war eigentlich zusammen mit seinem Chef aufgenommen worden. Er arbeitete … diente beim NKWD, im Fotolabor. Mein Vater hat seinen Chef entfernt, wegretuschiert. Ein schönes Foto.«
    »Sehr schön.« Sie hakte sich bei mir ein.
    Ich war dem Weinen nahe und wandte mich ab, ihr Arm glitt aus meiner Armbeuge heraus, blieb in der Luft hängen.
     
    Wie ihr Verhalten beim Totenmahl war? Über alles Lob erhaben. Taktvoll, ruhig, aufmerksam. Sie bereitete alles vor und trug es auf. Berücksichtigt man, dass wir – sie eingerechnet – nur zu dritt waren, musste sie sich freilich nicht übermäßig anstrengen.
    Ich war schon bald betrunken. Meine Zunge löste sich, und da sich nichts Besseres bot, erkor ich mir Kulagin zum Zuhörer. Mit ihr reden, mich ihr anvertrauen konnte ich noch nicht. Damals konnte ich es noch nicht. Ich brauchte Zeit. Wäre ich damals darauf verfallen, ihr mein Leid zu klagen, hätte ich ganz bestimmt Lisa erwähnt, hätte ich ihr gesagt, wie ähnlich sie beide sich sahen, aber das schwindende Bild meines Vaters trug auch die Erinnerung an Lisa mit sich fort.
    Ich wartete ab, dass es sich endgültig verlor.
    Wir saßen alle an dem einen Ende meines ausgezogenen Arbeitstisches, über den eine knisternde Decke gebreitet war. Am anderen Ende stand auf einem Schälchen ein gefülltes Glas, abgedeckt mit einem Stück Schwarzbrot. Das letzte Mahl meines Vaters. Auf dem kantigen Glas blitzte hin und wieder reflektiertes Licht.
    »Manche hielten meinen Vater für krank«, sagte ich zu dem aufmerksam zuhörenden Kulagin. »Angeblich litt er unter Verfolgungswahn. Oder unter einem Schuldkomplex. Nenne es, wie du willst. Er hatte den Eindruck, dass alle, die er von den Negativen entfernte, starben.«
    Die Zigarette entfiel meinen Fingern und rollte über den Tisch. Kulagin hob sie auf und drückte sie im Aschenbecher aus.
    »Ich habe davon gehört, Genosse«, sagte

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