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Der Retuscheur

Der Retuscheur

Titel: Der Retuscheur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dimitri Stachow
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heraustrat und vor dem Hintergrund der blassblauen Wände klare Umrisse gewann, war ihr Gesicht. Fast wäre ich wieder weggetreten: Diesmal war ihre Ähnlichkeit mit Lisa noch frappierender.
    »Mein Vater?«, fragte ich.
    Sie wandte die Augen ab, dann beugte sie sich über mich und richtete mein Kopfkissen.
    »Wie denn das?«, sagte ich lethargisch. »Wie denn das?«
    »Sie dürfen sich nicht aufregen. Es ist nichts Ernstes, aber aufregen …«
    »War er gleich tot?«, wollte ich wissen. »Gleich?«
    »Ja«, erwiderte sie.
     
    Zwei Tage später wurde ich entlassen. Kulagin holte mich ab, half mir, die Treppe hinunterzusteigen und mich ins Auto zu setzen. Ich hatte gedacht, sie würde auch mitkommen, doch sie war nicht dabei. Kulagin suchte mich mit seiner Lebhaftigkeit anzustecken, erklärte, er übernehme es, alle Begräbnisformalitäten zu regeln, ich müsse mich schonen, zu Hause liegen, im Dunkeln, Medikamente – er wies mit dem Kopf auf die Schachteln, die auf dem Rücksitz verstreut lagen – einnehmen, ich werde noch genug Gelegenheit haben zu arbeiten, zu fotografieren, zu retuschieren, so einen wie mich gebe es nicht noch einmal.
    »Wenn du wieder gesund bist, decke ich dich mit Arbeit ein!«, versprach der behutsam fahrende und mir teilnahmsvolle Blicke zuwerfende Kulagin. »Jetzt gibt es so viele Aufträge!«
    »Wo werden wir ihn begraben?«, fragte ich.
    »Mach dir deswegen keine Sorgen. Ich habe alles bedacht, außerdem beteiligen sich die Veteranen. Wir werden ihn beerdigen, wie es sich gehört, einen Grabstein aufstellen.« Er sah mich mit besonderer Fürsorglichkeit an. »Ja, zu den Aufträgen. Ich habe die Gebührensätze erhöht. Die Inflation! Und die Nachfrage nach dem letzten Profi! Ich meine das Retuschieren. Und was die Hauptsache betrifft: Hör zu, die schärfsten Schnecken wollen nur von dir fotografiert werden!«
    Ich hörte ihm nicht zu.
     
    Auf den Friedhof kamen nur ein paar Leute: zwei Veteranen, für die solche Besuche zu ihren Veteranenobliegenheiten gehörten, meine schrullige Nachbarin, die wer weiß wie von der Beerdigung erfahren hatte, ich und Kulagin.
    Tatjana hatte ich nicht benachrichtigen können, da ich von ihr weder Adresse noch Telefonnummer hatte. Mit Hilfe des Notizbuchs meines Vaters versuchte ich noch den einen oder anderen ausfindig zu machen, um ihn zur Beerdigung einzuladen, doch die Namen und Telefonnummern waren entweder geschwärzt, oder man antwortete mir, der Betreffende sei längst tot.
    Als das Grab zugeschüttet war, verharrten wir neben dem frischen Hügel in trauervollem Schweigen: die Veteranen-Aktivisten in der gleichen Haltung, die Hände am Unterbauch verschränkt, die Nachbarin mit leidenschaftslos huschendem Blick, ein Stück weg – der Brigadier der Friedhofsarbeiter und Kulagin. Ich direkt am Grab.
    »Unsere Reihen lichten sich«, sagte hinter meinem Rücken der eine Aktivist.
    »Ja, ich erinnere mich an Genrich Iwanowitsch …«, setzte der andere an.
    »Rudolfowitsch!«, korrigierte der Erste.
    »Rudolfowitsch! Ja, er ist mir noch aus dem Jahre neununddreißig in Erinnerung geblieben. Ein Mensch von seltener Seelengüte!« Der Zweite schickte sich offenbar an, so etwas wie eine Trauerrede zu halten.
    »Und was für ein Fachmann er war!« Der Erste wollte die Initiative nicht aus der Hand geben. »Der Beste! In unserer Verwaltung war er der wertvollste Kader!«
    Ich wandte mich um und trat zu ihnen.
    »Ja, der Beste!« Der Sprechende war hager und hatte einen großen Adamsapfel, die wässrigen Augen tränten. »Solche gibt es nicht mehr. Ein schrecklicher Tod! Ein schon am Morgen betrunkener Benzinkutscher. Abschaum, wahrhaftig.« Er betrachtete mich, ohne zu blinzeln. »Sie sind ja, wie ich höre, in die Fußstapfen Ihres Vaters getreten? Stimmt das? Herzliches Beileid!«
    Ich drückte zuerst ihm die Hand, dann dem anderen.
    »Solche Fachleute gibt es nicht mehr«, sagte jetzt seinerseits der Zweite, wobei er meine Hand festhielt, aber seinen Mitaktivisten ansah. »Wenn dieser Benzinkutscher ihn abends überfahren hätte, wäre es dann vielleicht leichter?« Er richtete seinen Blick auf mich. »Der junge Mann möge es mir nicht übel nehmen, aber – nein. Nein!«
    »Was ›nein‹?«, fragte der Erste. »Wäre es nicht leichter, oder gibt es keine solchen Fachleute mehr?«
    »Der Marasmus schreitet voran!« Der Zweite zwinkerte mir zu und deutete mit dem Kopf auf den Ersten. »Nehmen Sie es mir nicht übel!«
    »Ich nehme es nicht übel«,

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