Der Retuscheur
den meinen stand mühsam auf, zog das Laken vom Bett, warf es mir über und setzte mich wieder hin: Das gestern Abend Getrunkene gärte in meinem Blut, pulsierte in meinen Schläfen.
Ich umfasste meinen Kopf, rieb mir das Gesicht mit den Händen und spürte, dass ich betrachtet wurde. Sie stand im Türrahmen, mein Morgenrock umspannte ihren schlanken Körper, die feuchten Haare waren zu einem Knoten hochgesteckt, herabfallende Strähnen umspielten den hohen Hals. Noch nicht ganz Lisa, aber schon sehr, sehr ähnlich.
»Guten Morgen, Genrich!«, sagte sie.
»Ich kann diesen Namen nicht leiden!«, sagte ich launisch – Katerstimmung, eindeutig!
»Das Frühstück ist fertig, Gena!« Sie gab mir mit ihrem Lächeln zu verstehen, dass sie mir auch diese Laune verzeihe.
»Habe ich mich gestern schlecht benommen?«, fragte ich etwas argwöhnisch.
»Du hast gestern deinen Freund rausgeschmissen«, sagte sie.
»Wen? Kolka? Oh, verdammt! Warum?«
»Ihr seid in Streit geraten …«
»Weswegen? Worüber sollte ich mit ihm streiten?«
»Über deinen Vater.«
»Und?«
»Er sagte, dein Vater sei krank gewesen. Du sagtest, er war gesund.«
»Klar«, sagte ich. »Und du?«
»Was – ich?«
»Was meinst du?«
»Er war gesund.«
An jenem Morgen war ich eine leichte Beute. Eine Treibjagd zu veranstalten, Fähnchen aufzuhängen oder Lockmittel einzusetzen erübrigte sich. Sie setzte den Hebel richtig an: die Ähnlichkeit mit Lisa plus meine völlige innere Zerrissenheit. Sich in mein Vertrauen einzuschleichen, Ränke zu spinnen – für all das bestand keine Notwendigkeit.
Selbst als ich nach dem Frühstück das Begonnene zu Ende zu bringen begann, den Inhalt der Regalkästen auf den Fußboden kippte und den Papier- und Fotohaufen in Tüten stopfte, gebot sie mir keinen Einhalt. Auch das kam ihr zupass. Allerdings fragte sie, als sie meinen Furor und meine Schonungslosigkeit gegenüber den Früchten von vielen Jahren Arbeit sah:
»Das alles willst du wegwerfen?«
Ich richtete mich auf und klopfte mir angeekelt die Hände ab.
Sie saß am Arbeitstisch. Nach wie vor in meinem Morgenrock, die bloßen Beine untergeschlagen. Sie trank Saft aus einem hohen Glas, und auf dem Tisch vor ihr lag das Foto Andronkinas.
»Natürlich!« Ich nickte. »Ich rühre das nicht mehr an. Den Schaber jedenfalls ganz bestimmt nicht. Wozu soll ich das also aufbewahren?«
»Und was hast du vor?« Sie nahm einen Schluck.
»Ich lass mir schon was einfallen! Ich brauche eine Veränderung. Unbedingt. Am besten ist eine totale Veränderung. Mit der sofort zu beginnen ist. Fahren wir irgendwohin? Einfach so – wir setzen uns ins Auto und fahren los. Wir beide. Die Straße rollt sich auf die Räder auf.«
»Sehr poetisch!«
»Ich meine es ernst. Fahren wir? Ich kann bei den Veteranen anrufen, den ehemaligen Kollegen meines Vaters. Er hat mir davon erzählt, dass sie ein fabelhaftes Erholungsheim haben. An einem Fluss.«
»Was für eins?«
»Egal! Ich verbrenne bloß noch diesen Müll« – ich versetzte einer der Tüten einen Fußtritt – »und los geht’s! Was meinst du?«
Sie nickte zustimmend. Die Schuld muss ich mir also allein zuschreiben: Ich habe selbst den Kopf in die Schlinge gesteckt.
Drei Stunden später fuhren wir los.
Es wäre besser gewesen, wenn ich mich wieder hingelegt hätte, aber zurück konnte ich nicht mehr. Als ich die Runde im Hof drehte, sah ich, wie bei den Mülltonnen meine weggeworfenen Tüten verglommen: Immer findet sich ein Pyromane, der ein Streichholz dranhält, um Rückzugswege abzuschneiden. Auch diesmal hatte sich einer gefunden.
»Tut’s dir nicht leid?«, fragte sie.
»Nein«, erwiderte ich fest. »Notfalls fange ich von vorn an.«
»Hättest du schon wieder Lust dazu?«
Diesmal ließ ich mir Zeit mit der Antwort.
Mein Material zum Müll zu schaffen hatte natürlich etwas von Pose. Die Geräte hatte ich ja nicht mit weggeworfen! Und auch nicht die Trödler angerufen: Eine ganze Horde wäre gekommen, hätte auch nur einer erfahren, dass Miller einen Ausverkauf veranstaltet.
Ich sah sie an. Sie lächelte. Provozierte und lächelte, aber damals kam ich nicht dahinter. Ich dachte, mit solchen Fragen wolle sie mich stärken, mir unter die Arme greifen.
»Ich weiß noch nicht«, sagte ich.
»Und deswegen hast du den Fotoapparat eingepackt?«
Ich fuhr schon auf der Straße, wollte gerade einen am Gehsteig stehenden Autobus passieren.
»Das kann nicht sein!« Ich trat auf die Bremse, sodass
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