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Der Retuscheur

Der Retuscheur

Titel: Der Retuscheur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dimitri Stachow
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seine Zigarette aus, nahm einen Schluck Saft, spülte seinen Mund damit und schluckte den Saft hinunter. »Da war noch eine Persönlichkeit gewesen. Eine hochinteressante! Die aber nicht zur offiziellen Lenin-Darstellung passte. Sie stand neben dem proletarischen Schriftsteller. So ein …« – er machte ein düsteres Gesicht und blies die Backen auf –, »so ein imposanter. Benito Mussolini. Ein guter Freund Wladimir Iljitschs übrigens. Mit Mütze. Hände in den Hosentaschen. Ein Sozialist! Prost!« Er hob das Glas, und wir stießen an. »Dein Väterchen hat diesen Benito kurzerhand entfernt! Heute weiß keiner mehr von dieser Freundschaft. Abgesehen von mir …« Er zog den Kopf ein und sah mich von unten her an. »Und dir! Haha! Schätzchen! Noch je eins!«
    Noch ein Glas Kognak war zu viel für ihn. Das Blut schoss ihm in den Kopf, die Hand rutschte von der schweißigen Wange, sein Kopf schlug dumpf auf dem Tresen auf. Ich konnte ihn gerade noch abfangen und versuchte ihn erfolglos wieder auf den Hocker zu setzen.
    »Er wohnt in dem da.« Das »Schätzchen« wies auf das Haus des Erholungsheims, das der Tanzfläche am nächsten stand. »Soll ich jemanden zu Hilfe holen?«
    »Ich schaff es schon!«, sagte ich und schleppte den Historiker ab.
    Er murmelte etwas, kämpfte mit dem Schluckauf, erschlaffte hin und wieder, setzte aber seine Beine.
    »In welchem Jahr war das?«, fragte ich.
    »Was?« Er rülpste.
    »Na, die Geschichte mit dem Foto!«
    »Vierundvierzig.« Er rülpste wieder, fügte jedoch noch hinzu, bevor ihm schlecht wurde: »Dein Vater hat Benito Ende des Jahres entfernt, und im Frühjahr hing der schon kopfunter.«
    Die Pflegerin in der Halle schrie beunruhigt auf und klatschte die Hände gegen den schneeweißen Kittel.
    »Schon wieder! Er darf doch nicht! Der Arzt hat gesagt, er darf nicht!«
    Auf ihr Geschrei hin kamen noch zwei Pflegerinnen angelaufen und nahmen mir meine Bürde ab. Ich versuchte herauszukriegen, in welchem Zimmer er wohnte, doch da sie meinten, ich hätte ihn betrunken gemacht, weigerten sie sich, mir sein Zimmer zu nennen, und komplimentierten mich hinaus.
     
    Ich kehrte zur Tanzfläche zurück, aber Tatjana war nicht hier. Da ging ich zu der Allee, die zu den Bungalows führte. Jemand hüstelte hinter mir. Ich drehte mich um und zuckte zusammen: Sie war es.
    »Oh, ich habe dich verloren! Wo bist du gewesen? Hier ist es so langweilig!«, sagte sie, trat leicht zurück, sah mir aufmerksam in die Augen und schnupperte. »Was hast du getrunken? Und wie viel? Und mit wem? Du wirst noch zum Trinker. Und deine Hände werden zittern.«
    »Ich habe mit einem sehr seltsamen Menschen getrunken. Ich beschloss, mir nichts zu versagen, und da habe ich mich eben mit Kognak volllaufen lassen.«
    Sie sprang hoch und hängte sich fast an meinen Hals.
    »Ich schlage ein Spiel vor! Wer als Erster an unserem Bungalow ankommt, der ist … der ist … König! Oder Königin! Sein Wunsch ist Gesetz. Auf der Allee darf nicht gelaufen werden. Du nach links, ich nach rechts.«
    »Umgekehrt!«
    »Na gut! Eins! Zwei! Drei!« Sie stieß sich von mir ab und verschwand im Gesträuch bei der Tanzfläche.
    Ich rannte in die entgegengesetzte Richtung, auf einem Weg parallel zur Hauptallee, stolperte über eine Wurzel, stürzte, lief hinkend weiter. Dann machte ich Halt, brach durch die Büsche und lief nach rechts, stolperte wieder, prallte gegen einen Baumstamm.
    Unseren Bungalow erreichte ich humpelnd, die Hand an die geprellte Brust gedrückt. Die Arme in die Seiten gestemmt, ein Bein mit hochgeschobenem Rock auf einen Sessel gestellt, stand Tatjana in der Mitte des Zimmers. Hinter ihr im Spiegel blitzten Lichtreflexe.
    »Die Königin nimmt den Eid ab!«, verkündete sie.
    Ich machte einen Schritt nach vorn, kniete mich neben den Sessel, küsste ihr Knie. Meine Lippen glitten über die zarte Haut ihres Schenkels höher und höher hinauf, ihre Hand legte sich auf meinen Hinterkopf.
    »Ich schwöre!«, sagte ich mit angehaltenem Atem.

Neuntes Kapitel
    Ich hielt mich für einen Meister des weiblichen Fotoporträts. Insbesondere im spezifischen Genre des Halbaktes.
    Jenem, das bei genauerem Hinsehen banaler als banal ist. Die nuttenhafte Keuschheit des Modells: »Wer möchte mal? Ich muss los zur Schule!«
    Auf dieses Genre eingestimmt hatten mich meine Trips zu Kindergärten, Pionierlagern und Armeeeinheiten. Oder meine Hochzeitsaufträge. Beim Fotografieren von süßen Kleinen, jungen Soldaten mit Abzeichen

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