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Der Retuscheur

Der Retuscheur

Titel: Der Retuscheur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dimitri Stachow
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Tänzerin. Was ich für ein Abendkleid gehalten hatte, erfuhr sehr bald seine Verwandlung in ein Kleidungsstück, das die Schönheit ihrer schlanken Beine wunderbar zur Geltung brachte. Bei jedem neuen Tanz stürmte sie los und stürzte sich in das Getümmel. Ins Erholungsheim war längst die neue Zeit eingezogen, die Bungalows wurden an die »neuen Russen« vermietet, die Veteranen drückten sich am Rand der Tanzfläche herum und machten, gleich ermatteten Vögeln, im Takt der Musik nickende Kopfbewegungen. Ich zwängte mich zur Bar durch und nahm die Flaschen auf den Borden in Augenschein. Eine ziemlich alkoholisiert klingende Stimme veranlasste mich, zur Seite zu blicken.
    »Attrappen! Hier gibt es nichts als Kognak und sauren Saft.« Er saß unbequem, halb abgewandt, auf einem hohen Hocker. »Aber wenn man einen Schluck Kognak nimmt, dann einen Schluck Saft und wieder Kognak, dann geht es. Lässt sich leben.«
    »Für Sie?« Die Bardame war zu uns herangetreten: gestärktes Häubchen, Seidenbluse, die sich über gewaltigen Brüsten spannte.
    »Das Gleiche wie ich!« Mein Nachbar stützte den großen Kopf mit der vorgewölbten Stirn in seine kleine dürre Hand.
    »Hundert Gramm Kognak und Saft«, sagte ich zu der Bardame.
    »Das ist die richtige Wahl, Freund.« Mein Nachbar nickte billigend. »Du wirst zufrieden sein!«
    Die Bardame stellte ein großes Schnapsglas vor mich hin, in das sie Kognak einschenkte, und daneben ein Glas mit trübem Saft. Ich bezahlte, nahm das Schnapsglas und wandte mich zu den Tanzenden um. Tatjana tanzte einen Boogie-Woogie mit einem groß gewachsenen Besitzer eines hochrasierten Nackens.
    »So eine Frau darf man nicht allein lassen«, sagte mein Nebenmann, nahm sein Glas, auf dessen Boden etwas plätscherte, warf den Kopf zurück und trank. »Wenn man Salz und Zigarettenasche leckt und dann schnell trinkt, wird das Sodbrennen nicht so schlimm.« Er stieg von seinem Hocker, stand schwankend da, stieß mit der Schulter gegen mich. »Früher hat es hier bloß armenischen Kognak gegeben.«
    »Früher – wann war das?«, fragte ich.
    »Als sich hierher solche Frauen nicht verirrten. Ich möchte mal wissen, woher sie kommen und wohin sie verschwinden!«
    Ich nahm einen Schluck Kognak, goss den Rest hinterher und warf meinem Nebenmann einen schrägen Blick zu. Der betrachtete mit trüben Augen und halb geschlossenen Lidern die Tanzfläche.
    »Trink noch einen!«, schlug er mir vor. »Bei deiner Verfassung musst du unbedingt einen trinken!«
    Ich fasste ihn am Ellbogen.
    »Was willst du von mir?« Meine Lippen berührten fast sein Ohr.
    »Entspanne dich! Entspanne dich!« Er lächelte schief und schüttelte meine Hand ab. »Soll ich dir einen spendieren? Ich bin heute großzügig.« Er drehte sich dem Tresen zu und klopfte mit der Hand. »Schätzchen! Das Gleiche! Zweimal!«
    Die Bardame füllte zwei Gläser mit Kognak.
    »Dein Vater hieß Miller, Genrich Rudolfowitsch? Stimmt’s?« Er griff nach seinem Glas – seine Hand zitterte stark. »Frag nicht, frag mich nichts! Ihr gleicht euch einfach wie ein Ei dem anderen. Ich habe vor fünf Jahren ein Buch geschrieben und mich mit deinem Vater getroffen.«
    »Ach ja?« Mein Nebenmann sah nicht aus wie einer, der in der Lage ist, auf einer Tastatur den gewünschten Buchstaben zu treffen.
    »Ja! Ein Buch. Ein historisches. Über die Organe. Niemand wollte es verlegen. Interessiert keinen mehr, hieß es! Die Mode sei passe.« Er trank, beklopfte seine Taschen mit der Hand, holte Zigaretten hervor, steckte sich eine an. »Alles für die Katz! Aber dein Vater war ein Genie! Solche gibt es nicht mehr. Hast du das nicht gewusst?«
    »Habe ich«, sagte ich und fragte:
    »Und woher weißt du, dass er es ›war‹?«
    »Einen Dreck hast du gewusst!« Er bleckte die Zähne, ohne meine Frage zu beantworten. »Einen Dreck! Kennst du wenigstens seine interessanteste Arbeit?«
    »Nein«, gestand ich.
    »Ich habe über sie geschrieben.« Er kletterte auf seinen Hocker, stützte wieder den Kopf in die Hand und sog gefühlvoll die Luft durch die Nase ein. »Erinnerst du dich an die berühmte Fotografie ›Lenin spielt Schach bei Gorki auf Capri‹?«
    »Ja.«
    »Lenin spielt darauf mit irgendeinem Salbader, im Hintergrund sieht man Alexej Maximytsch mit Hut und noch irgendeinen Schwachkopf. Sie blicken in die Gegend. Dahinter ist das Tyrrhenische Meer zu sehen. Das hat dein Vater aus dem Foto gemacht.«
    »Was heißt ›gemacht‹?«
    »Was wohl!« Er drückte

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