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Der Retuscheur

Der Retuscheur

Titel: Der Retuscheur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dimitri Stachow
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das Auto hinter mir um ein Haar auf meinen Shiguli-6 aufgefahren wäre. »Das kann nicht sein! Wir müssen umkehren! Ich nehme ihn raus!«
    »Fahren wir! Fahren wir! Du hast mir doch angeboten, mich zu fotografieren. Jetzt bekommst du die Gelegenheit …« Sie brach ab, doch da sie sah, dass ich keine Anstalten machte zu wenden, sprach sie weiter, als wäre nichts gewesen.
    »Während du damit beschäftigt warst, die Tüten zum Müll zu schleppen, rief dein Untersuchungsführer an.«
    »›Mein‹ Untersuchungsführer?«
    »Der mit dir gesprochen hat.«
    »Klar! Nach dem Restaurant. Was wollte er?«
    »Dich zum Gespräch bitten.«
    »Wozu?«
    »Nun, das hat er mir nicht gesagt, lässt dir aber ausrichten, dass der Benzinkutscher, von dem dein Vater und du angefahren worden seid, Selbstmord begangen hat. Die Pulsadern aufgeschnitten. Ich habe dem Untersuchungsführer gesagt, du seist weggefahren.«
    Wir brauchten lange. Ein paarmal verfuhren wir uns, mussten fragen, wie man zu dem Erholungsheim kam. Wir aßen die mitgenommenen belegten Brote, tranken Tee aus der Thermosflasche und Cola aus unterwegs gekauften Büchsen. Wir stiegen aus, um uns die Beine zu vertreten – »Jungs links, Mädchen rechts« –, ich war wieder als Erster am Auto. Tatjana kam mit einem Sträußchen Walderdbeeren zurück.
    Keinerlei Wehmut, keinerlei Empfindung des Verlusts, der Trauer. Leichtigkeit – ein wenig rauschhaft – und der Wunsch, weiter, immer weiter zu fahren, einfach so ins Blaue. Kein Gedanke an meinen Vater, an seinen Tod und das Erbe. Völlige Verdrängung des kahlköpfigen Untersuchungsführers und der fremden Tode irgendwohin an den Rand, auf die sich hinter uns verjüngende Straße.
     
    In dem Erholungsheim bekamen wir einen separaten Bungalow.
    Wir aßen zu Abend, dann bekam sie Lust, tanzen zu gehen. Aus der Tasche, in die gar nicht so viel hineinzugehen schien, brachte sie ein Abendkleid und Schuhe mit hohen Absätzen zum Vorschein. Und in dem Kleid wurde ihre Ähnlichkeit mit Lisa, die nie so etwas getragen hatte, einfach überwältigend.
    Ich saß im Sessel und beobachtete, wie sich Tatjana vor dem Spiegel sorgsam die Augen anmalte.
    »Was guckst du so?«, fragte sie, als sie es bemerkte.
    Ich griff nach meinem auf dem Fußboden stehenden Glas und sah sie durch den Wein hindurch an. Dann trank ich einen großen Schluck.
    »Als ob du mich zum ersten Mal sehen würdest.« Sie legte den Stift weg und griff nach dem Lippenrot. »Gefalle ich dir?«
    »Sehr.« Ich nickte – ich konnte ihr die Ähnlichkeit ja nicht gut erklären! »Du hast mir gleich gefallen, als ich dir bei meinem Vater begegnet bin. Liebe auf den ersten Blick.«
    »Du sprichst, als ob deine Liebe bereits der Vergangenheit angehört.« Sie fuhr mit dem Lippenstift über die Unterlippe, drückte die Ober- gegen die Unterlippe, und ihr Gesicht nahm einen erstaunlich dümmlichen Ausdruck an.
    »Die Phase des zweiten Blicks hat begonnen«, sagte ich und leerte das Glas. »Trotzdem kommt es mir vor, als würde ich dich schon eine Ewigkeit kennen. Dabei sind es erst wenige Tage.«
    »Bedrückt dich das?«
    Ich fasste hinter den Sessel nach der Weinflasche und goss mir wieder ein. Im Imbissraum neben dem Verwaltungsgebäude wurde ausgezeichneter italienischer Wein verkauft! Ich trank die Hälfte meines Glases aus und betrachtete Tatjana eine Weile nachdenklich.
    »Kaum, aber ich platze vor Neugier. Ich bin sehr neugierig. Mich an etwas heranzuarbeiten, einer Sache auf den Grund zu gehen. Da bin ich ganz in meinem Element.«
    »Dann fang mal an, dich heranzuarbeiten«, gestattete sie mir.
    »Nehmen wir zum Beispiel das: Als ich die Papiere verbrannte … Schön, das scheint klar zu sein! Was ich dich fragen wollte …«
    Irgendwo weiter weg klang Musik auf. Tatjana warf einen Blick auf ihre Uhr.
    »Der Tanz hat begonnen! Kann ich mir gut vorstellen! Tanz im Erholungsheim für Ruheständler. Für Veteranen der Organe. Wir werden bis zu den Knien im Sand stehend tanzen. Dass du gern tanzt, hätte ich wirklich nicht gedacht!« Sie trat zu mir heran, nahm mir das Glas ab, trank es aus, stellte es auf den Fußboden und setzte sich auf meine Knie. »Wir brauchen nirgends hinzugehen. Bleiben lieber in unserem Häuschen. Du wirst dich an mich heranarbeiten.«
    »Damit hat es keine Eile!«, sagte ich. »Du kennst mich noch nicht!«
     
    Ich hätte nicht gedacht, dass mir beim zweiten Tanz die Puste ausgehen würde.
    Sie dagegen entpuppte sich als unermüdliche

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