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Der Retuscheur

Der Retuscheur

Titel: Der Retuscheur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dimitri Stachow
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schaltete ich den Blinker ein, um zu wenden, und bremste ab, doch da hörte ich es von hinten hupen. Ich sah über die Schulter zurück: Der Fahrer eines schwarzen Wolga mit dem nostalgischen »MOS« auf dem Nummernschild forderte mich auf, die Spur frei zu machen. Ach, leck mich!, dachte ich, aber der Wolga-Fahrer erwies sich als hartnäckig: Er hupte wieder, ich riss das Lenkrad herum und wäre um ein Haar mit einem auf der rechten Spur fahrenden rasanten roten BMW zusammengeprallt.
    Der Wolga fuhr vorbei, der geschnittene BMW-Besitzer zeigte mir die Faust, doch das Profil des hinten sitzenden Mannes, das ich erhascht hatte, ließ mich zusammenzucken.
    Ich drückte aufs Gaspedal und jagte, seine Manöver mitmachend, dem Wolga hinterher.
    In ihm saß ein Klassefahrer. Wegweiser und Ampeln beachtete er nicht, die Kurven nahm er tollkühn. Trotzdem schaffte ich es, dem Wolga näher zu kommen und ihn schließlich rechts zu überholen. Tatsächlich – er war es, der in dem Auto saß, auf dem Rücksitz, in die Lektüre irgendwelcher Unterlagen vertieft, mein lieber Freund aus Kindertagen, mit verwickelt in jene Keilerei am Moskwa-Ufer, mein Rivale, der versucht hatte, mir Lisa auszuspannen – ein Schreihals, ehemaliger kleiner Komsomolfunktionär, heutiger Schönredner auf Kundgebungen.
    Er saß da wie ein Ölgötze, die Unterlippe vorgeschoben, die Brille auf der Nasenspitze. Er war es, der, den mir die unglückselige dumme Andronkina verstellt hatte.
    Baibikow, Spitzname Bai.
    Er war es, dessen Fotos in meinem Auto lagen, in dem schwarzen Kuvert.
    Er war es, der sich die zwölfjährige Tatjana auf den Schoß gesetzt, ihre kaum sichtbaren Brustansätze gedrückt und gefragt hatte:
    »Und was haben wir denn da Schönes?«
    Saukerl! So sehe ich dich also wieder!
     
    Ganz in den Anblick meines alten Kumpels versunken, übersah ich den unmittelbar vor mir aufgetauchten Kleinbus. Vor der Kollision bewahrte mich der Wolga-Fahrer: Der Kleinbus behinderte auch ihn, er begann zu bremsen und nach rechts auszuweichen, ich verlor Bai aus dem Blick, schaffte es aber noch, in die schmale Lücke zwischen dem Wolga und einem am Gehweg stehenden Lkw zu schlüpfen.
    Der Wolga fuhr einige Dutzend Meter auf der Gegenfahrbahn und bog an einer Kreuzung links ab.
    Ich stoppte am Gehweg, griff mit zitternden Fingern nach einer Zigarette, zündete sie an und nahm aus dem schwarzen Kuvert ein paar Fotos heraus.
    Auf allen machte Bai einen draufgängerischen Eindruck. Grübchen an den Mundwinkeln, eine etwas verschlagene Wendung des Kopfes. Asche fiel mir auf die Hosen, ich warf die Zigarette zum Fenster hinaus.
    »Nun, sei gegrüßt«, flüsterte ich.
     
    Kulagin war unrasiert, wirkte angegriffen, kehrte, nachdem er mich hereingelassen hatte, zum Sofa zurück, von dem er sich, den zerwühlten Kissen und der heruntergerutschten Decke nach zu urteilen, erhoben hatte, um mir aufzumachen.
    Mein lieber Kulagin war ein Asket, wie sich herausstellte. Ein Zeitschriftentischchen, zwei Sessel, ein Schränkchen mit dem Fernseher. Kahle Wände. Wie in einem Hotelzimmer.
    Ich ging in die Küche einen Aschenbecher holen. Hier herrschte eine ideale Ordnung, und es sah so aus, als nehme Kulagin ausschließlich fettarme Diätnahrung zu sich. Keinerlei Gerüche, Sauberkeit, auf dem kleinen Küchentisch eine schlichte Schale mit angewelkten Äpfeln. Ich verspürte aus irgendeinem Grund unsägliche Langeweile.
    »Was führt dich her?«, fragte Kulagin mit schwacher Stimme, als ich ins Zimmer zurückkehrte und mich in einen Sessel setzte. »Irgendwie bin ich nicht auf dem Posten.« Seine Hände zupften nervös an den Fransen der Decke, seine Augen waren rot. »Schlaflosigkeit. Und Fieber.«
    »Ich fuhr zufällig hier lang«, sagte ich und machte mein Feuerzeug an. »Vielleicht brauchst du Medikamente?«
    »Ich brauche nichts.« Auf Kulagins Gesicht erschien ein leichtes Lächeln. »Höchstens ein kleines Gläschen. Was hältst du davon?«
    »Ich fahre doch noch weiter«, sagte ich und erhob mich.
    »Wo willst du hin?« Seine schmalen Brauen krochen nach oben.
    »Eine Flasche holen.«
    »Ist da! Im Kühlschrank! Zu essen auch.«
    Ich entnahm dem praktisch leeren Kühlschrank eine Flasche Wodka, zwei Tomaten, eine Gurke und ein Stück Wurst, dazu dem Schränkchen über dem Herd zwei kleine Gläser.
    »Du trinkst doch wohl gern was nach«, sagte Kulagin, während er beobachtete, wie ich alles auf dem Zeitschriftentischchen verteilte. »Im Kühlschrank ist

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