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Der Retuscheur

Der Retuscheur

Titel: Der Retuscheur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dimitri Stachow
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vergisst man nicht. Dafür bringt man es nicht nur fertig, jemanden bei der Miliz zu verpfeifen, dafür ist man imstande, ihn auch eigenhändig zusammenzuschlagen. In einem günstigen Moment.
    Jetzt war an Lisas Stelle Tatjana getreten.
     
    Im Treppenhaus war es still und kühl. Beim Hinaufsteigen machte ich an jedem Hoffenster Halt. Die Fensterbretter schienen alle glatt, ohne Risse, doch in dem einen, von dem Tatjana mir erzählt hatte, war am linken Rand ein tiefer Spalt.
    Ich legte meine Hand darauf. Wie ein Sprengmeister, der den Gang des Uhrenmechanismus zu spüren versucht, schloss ich die Augen. Wenige Augenblicke vor der Explosion.
    Mit der anderen Hand entnahm ich der Seitentasche des Köfferchens die Schlüssel zur Wohnung meines Vaters, suchte einen langen, dünnen heraus, den für das Haupt-, das Geheimschloss, und steckte ihn in den Spalt. Meine Hände arbeiteten wie von selbst, es dauerte nicht lange, und aus dem Spalt kamen nach verfestigtem Schmutz, ganz vom Grund herauf, zwei zusammengerollte Stückchen festes Papier zum Vorschein.
    Die Schlüssel fielen klirrend aufs Fensterbrett.
    Obwohl ich diese Papierstückchen erst in der Wohnung meines Vaters glatt strich, wusste ich schon dort, auf der Treppe, was das war: Einwickelpapier von »Aljonka«"Schokolade.
    Also war tatsächlich alles so gewesen! Also hatte sie, das dreizehnjährige verliebte dumme Gänschen, jeden Tag an diesem Fenster gewartet, bis Bai nach Hause kam!
    Ich hörte sogar seinen rollenden Bass:
    »Auf wen warten wir denn so? Hm, auf wen? Kommst du mit rein? Kriegst auch Tee. Nun? Hab keine Angst!«
    »Sie kommen heute zeitig«, stammelte sie.
     
    Er legte ihr den Arm um die Schultern und führte sie zu seiner Wohnungstür.
    »Ich wusste, dass du auf mich wartest. Und habe mich beeilt. Habe alles, was anlag, verschoben.«
    »Ist das wahr?«
    »Natürlich! Natürlich ist das wahr. Glaubst du mir etwa nicht?«
    »Doch!«
    Die Tür klappte zu, kaum dass sie eingetreten waren.
    Die Maus war in die Falle gegangen.
    Baibikow schloss die Tür ab und wandte sich zu ihr um:
    »Du bist ein so hübsches Mädchen! Die Hübscheste! Hast du Sehnsucht nach mir gehabt?«
    »Ja …«
    »Ich war auf Dienstreise. Weißt du, was das ist?«
    »Natürlich!«
    »Und was weißt du noch?« Er lachte, führte sie zum großen Spiegel, zog den Gummiring aus Tanjas Haar und ließ es frei auf ihre erschrocken hochgezogenen Schultern fallen. »Du bist schon ein großes Mädchen. Ein großes, ja? Und weißt vieles?« Er fasste nach ihrem Kinn. »Und kannst vieles? Zum Beispiel schweigen – kannst du das?«
    »Worüber soll ich schweigen?«, fragte sie und schloss die Augen.
    Wonach mag Tanja geduftet haben? Dem Gleichen wie Lisa? Womöglich auch nach Berberitzenbonbons? Bai muss sich an ihren Duft erinnern. Man braucht ihn nur beim Kragen zu packen und ordentlich zu schütteln. Wenn er es vergessen hat, wird es ihm sofort einfallen. Und ob es ihm einfallen wird!
    Und dann gab er ihr die Schokoladentafel, zuvor aber übte er ein bisschen psychischen Druck aus, bearbeitete sie, im Korridor, wenn sie mit tränenverquollenen Augen ein paarmal vergeblich versuchte, die Tür zu öffnen.
    »Dir wird doch sowieso keiner glauben!« Er sprach, als würde er in seinem Büro einen Komsomolzen zusammenstauchen, der sich etwas hatte zuschulden kommen lassen. »Und bestrafen wird man dich, du Dummchen! Tanetschka! Sei deinem ewigen Verehrer nicht böse! Ich bin doch dein ewiger Verehrer!«
    Unter Tränen lächelte sie.
    »Ist das wahr?«
    »Natürlich!«
     
    Ich saß in der Wohnung meines Vaters an dem Tisch im großen Zimmer, glättete mit den Schlüsseln die Papierchen und faltete sie zusammen. Ein Zufall konnte das nicht sein. Das alberne Mädchen mit Kopftüchlein und Pausbäckchen sah mich an und leicht zur Seite.
    Ich hätte ihn totschlagen können!
    Ohne aufzustehen, zog ich das Köfferchen heran, nahm das von Tatjana zurückgelassene Kuvert heraus und schüttete den Inhalt auf den Tisch.
    Bais Fotos kamen so zu liegen, dass ich sie bequem genauer betrachten konnte. Ich wählte eines aus – das, auf dem der in der Mitte des Bildes stehende Herr Baibikow, die Lebensweisheit und Erfahrung in Person, Fragen von Journalisten beantwortete.
    Ja, dachte ich. Das wird eine interessante Arbeit!
    Mit dem Foto auf den Tischrand klopfend, wählte ich Kulagins Nummer.
    »Grüß dich«, sagte ich. »Weißt du, ich brenne regelrecht darauf, an die Arbeit zu gehen. Kannst du mir

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