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Der Retuscheur

Der Retuscheur

Titel: Der Retuscheur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dimitri Stachow
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›Sprite‹. Nicht bemerkt?«
    Ich brachte eine »Sprite«-Flasche und hohe Gläser und goss ihm und mir ein. Beim Aufsetzen berührte Kulagin die auf dem Sofa liegende Fernbedienung, und der Fernseher ging an.
    »Entschuldige«, sagte er.
    »Macht nichts. Kann anbleiben.« Ich füllte Wodka in die Gläser.
    Kulagin hob das seine und zwinkerte mir zu: auf dass du gesund bleibst und nicht hustest!
    Wir tranken aus. Der Wodka war sehr kalt und trank sich wie Wasser.
    »Irgendwas scheint mit dir zu sein«, sagte Kulagin und nahm sich ein Tomatenscheibchen vom Teller.
    »Alles in Ordnung, Kolja«, sagte ich. »Ich suche mir Arbeit und …«
    »Mit der Arbeit sieht es jetzt mau aus, Genosse.« Kulagin aß sein Tomatenscheibchen und wischte sich die Lippen mit dem Handrücken. »In den Redaktionen gibt es diese oder jene Vakanz, aber du wirst dazuverdienen müssen – die Bezahlung ist mies. In gewissen Agenturen wird gut gezahlt, da bekommt man bloß keine Anstellung. Man muss die richtigen Leute kennen. Du willst ja nicht erst beweisen, dass du besser bist als andere. Für dich ist das klar, doch das reicht nicht. Einstweilen kann ich dich zu irgendeinem Brennpunkt schicken. Die gibt es jetzt noch und noch. Willst du? Wenn du eine gute Reportage machst, kriegst du dein Geld sofort …«
    »Vor fünf Tagen hast du das genaue Gegenteil gesagt.« Ich goss noch mal ein. »Na gut, so einen Brennpunkt könnte ich schon gebrauchen. Wohin soll es gehen? Und für wie lange?«
    »Du könntest mit dem da fahren.« Kulagin wies mit der Fernbedienung auf den Bildschirm. »Ein richtiger Misthund, wie man hört, aber Arbeit ist Arbeit.«
    Ich richtete den Blick auf den Fernsehschirm: Eine Reportage vom Flughafen wurde ausgestrahlt, mein lieber Bai stand an der Gangway und gab ein Interview.
    »Schalt mal den Ton ein!«, bat ich.
    »Weißt du etwa nicht, was der von sich geben kann?« Kulagin nahm sein Gläschen und hob es an die Lippen. »Ein Laberarsch, wie es nur wenige gibt.«
    »Ton!«
    Kulagin drückte den Knopf, und das Zimmer war erfüllt von Bais Stimme. Ich stellte sofort fest: ob Kundgebung oder Interview – dieselbe Intonation, dieselbe haltlose, extreme Überzeugung von der Richtigkeit seines Standpunkts und seiner Unfehlbarkeit.
    »Die Hauptsache ist eine ausgewogene, ruhige Position«, sagte Bai. »Es gibt Kräfte, die bestrebt sind, die Situation zu destabilisieren. Was wir ihnen entgegensetzen werden …«
    Kulagin begann die Helligkeit zu regeln und wechselte versehentlich den Kanal.
    Anstelle meines teuren Bais kam eine Unterhaltungsbühne ins Bild, auf der mit weit auseinandergestellten Beinen in schwarzen Netzstrümpfen, die grell angestrahlten Haare schüttelnd, ein nuttiges Weibsstück heiser über das bittere Mädchenlos sang.
    »Ich wollte hören, was er von sich gibt!«, sagte ich zu Kulagin. Der kippte seinen Wodka und bedeutete mir mit den Augen: Trink schon.
    »Du wirst es in der Zeitung lesen!« Kulagin stellte das Glas an seinen Platz und atmete aus. »Ich kenne diesen Typ. Aus der Zeit meiner Tätigkeit im Forschungsinstitut. Er war erster Sekretär des Komsomolkreiskomitees. Ein wahrer Drecksack. Sein Vater ist übrigens seinerzeit der Chef deines Vaters gewesen. Hast du das nicht gewusst?«
    Ich leerte mein Glas und stellte es auf den Tisch.
    »Sein Vater war Eisenbahner. Das heißt, er war es nicht nur, er lebt ja noch. Ich habe ihn gesehen, letzte Woche.«
    Kulagin zuckte die Schultern.
    »Weiß ich nicht. Möglich, dass er auch Eisenbahner gewesen ist, aber sein Dienstrang war General des MGB. Baibikows Vatersname ist doch Borissowitsch? Und der Chef deines Vaters hieß Boris Vikentjewitsch. Na schön, hol ihn der Kuckuck, diesen Baibikow!« Kulagin nahm ein Stück Wurst und begann es mit seinen knochigen Kiefern zu zermahlen. »Also, bist du bereit?«
    »Wozu?«, fragte ich.
    »Die Sache zu übernehmen. Ruf an, du kannst aber davon ausgehen, dass der Auftrag schon dir gehört! Und iss was! Iss, Genosse!«

Zehntes Kapitel
    Dabei waren wir beide ja einmal unzertrennliche Freunde gewesen! In der Krippe krochen wir Seite an Seite im Ställchen herum, im Kindergarten liefen wir hintereinander her durch den Hof, in der Schule saßen wir auf einer Bank, von der ersten bis zur zehnten Klasse.
    Wie ein Schatten folgte er mir zu meinen Stelldicheins mit Lisa.
    »Das ist mein Freund«, sagte ich. »Darf er mitkommen ins Kino?«
    Sie nickte, griff nach meiner Hand. Bai lief hinterher. Hinterherlaufen – das

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