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Der Retuscheur

Der Retuscheur

Titel: Der Retuscheur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dimitri Stachow
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auf die Suche nach dem Chronisten der Organe, doch die Pflegerin sagte mir, er sei in der Nacht mit einem Rettungswagen weggebracht worden. Akute Herzinsuffizienz.
    Noch eine Nacht. Noch eine Morgendämmerung. Auf dem Rückweg verfuhren wir uns wieder und kamen erst gegen Abend an.
    Irgendwann zwischen Nacht, Morgengrauen und Abend, bereits in der Stadt, vertraute sie sich mir an. Jetzt sehe ich darin natürlich nichts als Berechnung, aber damals! In mir explodierte alles! Ich war drauf und dran, stehenden Fußes, so schnell ich konnte, loszusausen und, hatte ich den Verführer ausfindig gemacht, ihm den Frack vollzuhauen, diesem elenden Schofel!
     
    Der Abend steht mir noch deutlich vor Augen: Sommerstaub, eine rote Sonne, auf der Uferstraße standen Tieflader, die türkischen Fahrer versuchten gestikulierend dem Verkehrsmilizionär zu beweisen, dass sie unbedingt durchs Zentrum fahren müssten. Tanja wohnte in jenem großen Haus an der Uferstraße, in dem auch mein toter Vater gewohnt hatte. In meinem ehemaligen Haus.
    »Wohnst du hier?«, fragte ich.
    »Ja, zur Miete«, erwiderte sie.
    Ich mochte mich nicht von ihr trennen, sie einfach so aussteigen und die Autotür zuschlagen sehen. Ich wollte mit ihr mitgehen, aber sie gab mir unverhofft einen Korb. Ich bot ihr an, mit zu mir zu kommen, doch sie sagte, sie müsse sich umziehen, ein Bad nehmen, morgen habe sie einen Arbeitstag vor sich. Gut, überlegte ich mir, gut, morgen sehen wir uns ja wieder!
    »Dann bis morgen?«, sagte ich, als ich am Gehsteig anhielt.
    »Bis morgen!« Sie gab mir einen Kuss auf die Wange.
    Ich gebe es zu – ich bin ihr nachgegangen.
    Eine Frau zu beobachten besitzt einen gewissen Reiz. Bei einer wie ihr, die meine Jugendträume verkörperte, letzten Endes mein ganzes Ich, ist das nicht bloß ein Reiz, sondern eine orgasmusnahe Ekstase. Die jedoch etwas vom Aufkratzen eines Grindes, einer Schwäre hat.
    Ich folgte ihr in einem Abstand von vielleicht zwanzig Metern und hatte schreckliche Angst, sie könnte sich umdrehen. Jetzt glaube ich, sie wusste, dass ich ihr folgte, doch damals verriet ihr Gang Müdigkeit – was Wunder: eine wahrlich nicht einfache Rolle so zu spielen, sich völlig zu verausgaben und nicht zu ermüden! –, sie ging mit krummem Rücken, kam aus dem Rhythmus. Sie wandte sich nicht um.
    Ich wusste bereits – das war nicht Lisa. Nachdem wir uns ganz nahe gewesen waren, hatte sich alles, was von Lisa hätte sein können, verloren, als wäre das nur möglich gewesen, bis ich mit ihr schlief.
    Sie betrat den Hauseingang, während ich von der Toreinfahrt zum Auto zurückkehrte, wo ich auf dem von ihr verlassenen Sitz ein schwarzes Kuvert entdeckte. Ich brauchte es nicht zu öffnen: Ich wusste auch so, was drin war.
     
    An meiner Vortreppe standen Fahrzeuge – der Jeep einer Milizpatrouille, eine Ambulanz und ein Shiguli mit einer für ein Privatauto verdächtig großen Zahl von Antennen auf dem Dach. Auf der Vortreppe ein kräftig gebauter Kerl im Tarnanzug mit auf die Stirn geschobener Strumpfmaske. Aus der über die Schulter gehängten MPi schloss ich, dass, sollte etwas passiert sein, schon alles vorbei war. Wenn es jemandem beschieden gewesen war, diese MPi vor den Schädel gekracht zu kriegen, dann war es bereits geschehen.
    Neben den Fahrzeugen standen zwei sich friedlich unterhaltende Milizionäre, in dem einen erkannte ich unseren Abschnittsbevollmächtigten. Er empfing mich mit der Nachricht, die mich wie ein Schlag traf: In mein Studio waren Diebe eingestiegen, genauer gesagt, einer, der bei der Verrichtung seines Diebeswerks ums Leben gekommen war.
    Begleitet vom Abschnittsbevollmächtigten stieg ich die Vortreppe hinauf, der im Tarnanzug öffnete uns die Tür, und der Erste, den ich sah, war jener Glatzkopf, der mich nach dem Blutbad in dem Restaurant verhört hatte. Der Abschnittsbevollmächtigte führte mich wie ein Ordner bei einer Veranstaltung zu dem Glatzkopf, lächelte ihm säuerlich zu und zog sich wieder auf die Straße zurück.
    Mitten im Studio lag, mit einem Laken zugedeckt, ein Körper, zwei Krankenträger standen neben der Bahre, ringsum herrschte ein wüstes Durcheinander, Leute in Zivil rannten hin und her, kritzelten etwas in ihre Notizblöcke.
    »Ah, Sie sind das!«, sagte der Glatzkopf etwas enttäuscht, als hätte er erwartet, einen anderen zu Gesicht zu bekommen. »Sie kommen gerade recht. Hier ist eingebrochen worden. Die Nachbarn haben die Miliz alarmiert, und da hier ein Toter liegt,

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